Berlin — Obgleich hochgradig umstritten, ist das dritte „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ innerhalb von nur acht Stunden von Bundestag und Bundesrat verabschiedet und vom Bundespräsidenten ausgefertigt worden. Bundesregierung und Landesregierungen hoffen, dass mit diesem „dritten Bevölkerungsschutzgesetz“ die grundrechtseinschränkenden Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung des neuartigen Coronavirus’ (SARS-CoV-2) gerichtsfest sind. Dennoch sehen namhafte Juristen die verfassungsrechtlichen Bedenken mit dieser Novelle nicht ausgeräumt. Auch aus der Opposition im Bundestag kommt teils harsche Kritik. Ihre Stimmen waren für die Annahme des Gesetzes aber nicht erforderlich.
Der Deutsche Bundestag hat am 25. März 2020 mit Blick auf die dynamische Verbreitung des neuartigen Coronavirus’ (SARS-CoV-2) eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt. Die Anordnungs- und Verordnungsmöglichkeiten des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) wurden signifikant erweitert: Das BMG erhielt die Befugnis zu erheblichen Grundrechtseinschränkungen und wurde ermächtigt, durch Rechtsverordnungen ohne Zustimmung des Bundesrates Maßnahmen und Anordnungen zu treffen.
Mittlerweile dauert dieser Zustand acht Monate an und die Bundesrepublik Deutschland ist wegen hoher Neuinfektionszahlen die dritte Woche im „Lockdown Light“. Doch manch ergriffene Maßnahme wie etwa das „Beherbergungsverbot“ hat gerichtlicher Überprüfung nicht stand gehalten, da weder geeignet noch erforderlich oder verhältnismäßig. Die Beschränkungen des öffentlichen Lebens setzen Menschen zudem unter Stress oder bringen sie in Not, der neuerliche „Wellenbrecher-Lockdown“ bremst bereits die sommerliche Konjunkturerholung aus. Peter Altmaier (CDU), Bundesminister für Wirtschaft und Energie, prognostiziert gleichwohl: „Wir werden zumindest in den nächsten vier bis fünf Monaten mit erheblichen Vorsichtsmaßnahmen und Einschränkungen leben müssen.“
Statt fortgesetzter Verordnungsermächtigungen und Unterredungen im „Corona-Kabinett“ oder in virtuellen Ministerpräsidentenkonferenzen wird inzwischen der Ruf nach Einbeziehung der Parlamente lauter, nach parlamentarischen Erlassvorbehalten, Unterrichtungspflichten und transparenter Kommunikation mit dem Souverän. Auch um den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Parlamentsvorbehalts nach Artikel 80 Absatz 1 Satz 1 und 2 des Grundgesetzes zu entsprechen, sah sich die Große Koalition gehalten, eine gesetzliche Präzisierung hinsichtlich Dauer, Reichweite und Intensität möglicher Maßnahmen vorzunehmen. Michael Grosse-Brömer, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, postulierte sogar: „Dieses Gesetz ist nicht nur ein Bevölkerungsschutzgesetz. Dieses Gesetz ist vor allen Dingen ein Parlamentsstärkungsgesetz.“
Novelle detailliert Maßnahmen
Ausgangspunkt ist das Infektionsschutzgesetz (IfSG), das im Verlauf der Corona-Krise mehrfach erweitert und präzisiert worden ist. Die neuerliche Novelle untermauert den bestehenden Maßnahmenkatalog und listet nun detailliert auf, welche „Schutzmaßnahmen“ von Landesregierungen und zuständigen Behörden für die Dauer der epidemischen Lage von nationaler Tragweite verordnet werden können. Hierzu zählen:
• das Abstandsgebot im öffentlichen Raum,
• die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung (Maskenpflicht),
• die Ausgangs- und Kontaktbeschränkung im privaten und öffentlichen Raum,
• die Verpflichtung zum Erstellen und Anwenden von Hygienekonzepten in Betrieben und Einrichtungen mit Publikumsverkehr,
• das Untersagen oder Beschränken von Freizeit-, Kultur- und Sportveranstaltungen sowie dazu dienende Einrichtungen,
• das umfassende oder zeitlich beschränkte Verbot des Alkoholkonsums auf öffentlichen Plätzen oder in öffentlichen Einrichtungen,
• das Untersagen oder Beschränken von Veranstaltungen, Ansammlungen, Aufzügen, Versammlungen sowie religiösen oder weltanschaulichen Zusammenkünften, von Reisen, Übernachtungsangeboten und gastronomischen Einrichtungen,
• das Schließen oder Beschränken von Betrieben, Gewerben, Einzel- oder Großhandel,
• das Untersagen oder Beschränken des Betretens oder des Besuchs von Einrichtungen des Gesundheits- oder Sozialwesens (ein Mindestmaß an sozialen Kontakten muss gewährleistet bleiben),
• das Schließen von Bildungseinrichtungen sowie
• die Anordnung der Verarbeitung der Kontaktdaten von Kunden, Gästen oder Veranstaltungsteilnehmern, um nach Auftreten einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 mögliche Infektionsketten nachverfolgen und unterbrechen zu können.
„Freifahrtschein“ für Regierungen
Opposition und Staatsrechtler kritisieren gleichwohl die Novelle. Sie beanstanden zu starke Eingriffe in die Grundrechte und fordern mehr Mitsprache der Parlamente, bevor Maßnahmen beschlossen werden. So warnt der gesundheitspolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Detlev Spangenberg, die Ergänzungen „öffnen willkürlichem Entzug der Grundrechte Tür und Tor“. Und der Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, Dr. Alexander Gauland, meint, indem die Regierung die vom Volk gewählten Abgeordneten vor vollendete Tatsachen stelle, widerspreche sie dem Geist der Demokratie und dem Grundgesetz.
Christian Lindner, Vorsitzender der Fraktion der Freien Demokraten im Deutschen Bundestag, hält wiederum den Handlungsspielraum der Regierung beim Eingriff in die Grundrechte für zu groß. Das Gesetz gebe den Regierungen keine Leitplanken vor, sondern stelle ihnen „einen Freifahrtschein“ aus. Die Vorsitzende der Partei DIE LINKE, Katja Kipping, kritisiert: „Die Beteiligung des Parlamentes besteht darin, dass es zustimmen darf, auch weiterhin nichts zu sagen zu haben. Das ist das Gegenteil der Stärkung der demokratischen Mitbestimmung in der Corona-Krise, die dringend notwendig wäre.“
Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Prof. em. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier moniert allerdings, die Novelle habe „nichts Wesentliches“ daran geändert, dass die Grundrechtseinschränkungen nur durch Rechtsverordnungen der Regierungen legitimiert seien. Papier ist deshalb skeptisch, ob wirklich Rechtssicherheit geschaffen wurde, denn die Regierungen hätten weiterhin „einen ganz erheblichen Spielraum“. Der Verfassungsrechtler und frühere Bundesminister der Verteidigung Prof. Dr. Rupert Scholz (CDU) bemängelt obendrein, die Corona-Politik wurde durch eine nicht vom Grundgesetz legitimierte Instanz getroffen: „Es ist ein Zirkel, bestehend aus der Bundeskanzlerin und den Ministerpräsidenten der Länder, der sich unabhängig, sozusagen wie eine im freien Raum schwebende Regierung, gesetzgeberisch betätigt. So etwas gibt es nach unserer Verfassung nicht. Seine Existenz verstößt gegen das Demokratieprinzip und ist auch mit dem Föderationsprinzip nicht vereinbar.“
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