Nachbericht zum blick-Lesertelefon.
Bei der Entscheidung, ihren Hund kastrieren zu lassen, spielt für viele Hundebesitzer das Ziel eine Rolle, unerwünschte Verhaltensweisen ihres Vierbeiners zu beeinflussen. Doch das Tierschutzgesetz zieht enge Grenzen für eine Kastration von Hunden, handelt es sich dabei doch um eine Amputation von Körperteilen des Tieres. Umso wichtiger ist die Aufklärung über mögliche Alternativen – sowohl bei der Verhaltensänderung wie bei der Unfruchtbarmachung. Tiermediziner berieten Hundebesitzer am Lesertelefon rund um das Thema Kastration. Hier die wichtigsten Fragen und Antworten zum Nachlesen:
Macht eine Kastration meinen Hund weniger aggressiv gegenüber anderen Rüden?
Sophie Strodtbeck: Aggression ist ein „Vielzweckverhalten“ – man muss also genauer hinschauen. Handelt es sich um eine defensive Aggression, also eine von Stresshormonen gesteuerte, wird sie sich in den meisten Fällen nach der Kastration verschlimmern, weil die Sexualhormone selbstsicher machen und angstlösend wirken. Eine offensive Aggression hingegen kann sich durch Wegfall der Sexualhormone verbessern. Entscheidend ist zu wissen, welches Verhalten von welchen Hormonen beeinflusst wird, und wie diese sich zu den Sexualhormonen verhalten. Von einer pauschalen Kastration ist deshalb abzuraten; es sollte immer der Einzelfall beurteilt werden.
Laut meiner Hundepension zeigt mein Hund ein hypersexuelles Verhalten und sollte kastriert werden. Wie sehen Sie das?
Sophie Strodtbeck: Gerade Junghunde trainieren im Spiel Verhalten aus allen Funktionskreisen, darunter auch das Sexualverhalten. Oft dient das so genannte Aufreiten aber auch dem Abbau von Stress. In dem Fall wäre eine Kastration kontraindiziert, da das Testosteron ein wichtiger Gegenspieler der Stresshormone ist, der durch die Kastration wegfallen würde. Handelt es sich aber um echtes Sexualverhalten, muss zunächst geklärt werden, ob es ein normales Sexualverhalten ist – das nun einmal zum Hund gehört – oder eine Hypersexualität, also ein krankhaftes Geschehen. Denn nur dann kann die Kastration eine Besserung bringen.
Eine Garantie dafür gibt es allerdings nicht, denn Sexualverhalten kann auch ohne die Anwesenheit von Testosteron ausgelöst werden. Hier wäre also die Suche nach einer anderen Betreuung für den Hund angebracht. Eine Kastration sollte in diesem Fall nur nach einem „chemischem Probelauf“ in Betracht gezogen werden und wenn das Tier selbst unter seinem Verhalten leidet.
Mein Hund soll wegen einer gutartigen Prostatavergrößerung kastriert werden. Ist vorhersehbar, wie sich sein Verhalten ändern wird?
Prof. Dr. Axel Wehrend: Nein, wie sich die Kastration und die mit ihr verbundene Änderung im Hormonhaushalt auf das Verhalten eines Hundes auswirken wird, ist im Voraus nicht abzusehen.
Ist laut Tierschutzgesetz eine Kastration mit dem Ziel einer Verhaltensänderung überhaupt zulässig?
Priv.-Doz. Dr. med. vet. Sebastian Arlt: Laut §6, Abs 1a des Tierschutzgesetzes muss im Einzelfall für diese Maßnahme eine tierärztliche und verhaltensmedizinisch eindeutige Indikation gegeben sein. Zuvor müssen andere Alternativen wie Verhaltenstherapie oder gegebenenfalls auch medikamentöse Behandlungen diskutiert oder besser noch angemessen ausprobiert worden sein.
Nehmen Hunde nach einer Kastration immer zu?
Prof. Dr. Axel Wehrend: Nein, diese Annahme zählt zu den vielen Mythen rund um das Thema Kastration. Diese unerwünschte Nebenwirkung liegt in der Hand der Besitzer. Sie sind es, die für die Ernährung des Hundes verantwortlich sind.
Welche Nebenwirkungen kann eine Kastration noch haben?
Prof. Dr. Axel Wehrend: Häufigkeit und Art von unerwünschten Nebenwirkungen sind bei Hündinnen und Rüden unterschiedlich; generell ist das Risiko derartiger Nebenwirkungen bei der Hündin größer. Bekannt ist vielen Besitzern von Hündinnen die Möglichkeit der Harninkontinenz und von Fellveränderungen. Obwohl dieser Zusammenhang seit langem bekannt ist, gibt es nur sehr wenige aussagekräftige wissenschaftliche Studien zu diesem Thema.
Neuere Untersuchungen zeigen, dass – zumindest statistisch gesehen – die Entwicklung von Tumoren und degenerativen Gelenkserkrankungen durch die Kastration gefördert werden können. Bevor sich diese Zusammenhänge in ihrer praktischen Bedeutung bewerten lassen, müssen wir abwarten, ob Folgestudien zu gleichen Ergebnissen kommen. Kompliziert wird die Beratung über die möglichen Nebenwirkungen, weil das Alter des Hundes zum Zeitpunkt der Operation und die Rasse einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit des Auftretens der Nebenwirkungen haben.
Mein Tierarzt rät mir zu einer „Kastration auf Probe“. Wie funktioniert das genau?
Prof. Dr. Sandra Goericke-Pesch: Bei der „Kastration auf Probe“ wird dem Rüden ein Implantat unter die Haut verabreicht, ein so genannter Slow Release GnRH-Agonist. Nach einer Anlaufphase von etwa sechs Wochen wird die übergeordnete Hormonproduktion aus der Hirnanhangsdrüse herunterreguliert.
Durch den Wegfall dieser körpereigenen Hormone fehlt die Stimulation der entsprechenden Rezeptoren im Hoden, sodass die Produktion des männlichen Geschlechtshormons Testosterons und damit auch die Spermienproduktion zum Erliegen kommt. Damit treten alle Vor- und Nachteile einer operativen Kastration ein, zum Beispiel die Verkleinerung der Prostata oder hormonell bedingte Verhaltensänderungen. Der Effekt ist nach derzeitigem Wissen vollständig rückgängig zu machen. Bei einem Implantat mit 4,7 Milligramm Wirkstoff ist beispielsweise sechs Monate nach dem Einsetzen mit dem Wirkende zu rechnen.
Ist die Unfruchtbarmachung mit einem Hormonimplantat eigentlich eine Kastration im Sinne des Tierschutzgesetzes?
Priv.-Doz. Dr. med. vet. Sebastian Arlt: Die chirurgische Kastration fällt im Tierschutzgesetz unter §6, Abs. 1. Dieser beschreibt das Verbot des vollständigen oder teilweisen Amputierens von Körperteilen oder das vollständige oder teilweise Entnehmen oder Zerstören von Organen oder Geweben eines Wirbeltieres. Ferner werden dort Ausnahmen von diesem Verbot gelistet. Die medikamentöse Kastration mittels Hormonimplantat fällt nicht unter diese rechtlichen Regelungen, da Organe oder Gewebe nicht amputiert, entfernt oder zerstört, sondern lediglich für einen begrenzten Zeitraum inaktiviert werden.
Hat das Hormonimplantat dieselben Nebenwirkungen wie eine operative Kastration?
Prof. Dr. Sandra Goericke-Pesch: Nach aktuellem Wissen gehen wir davon aus, dass die Behandlung mit einem GnRH-Agonist-Implantat geeignet ist, alle kastrationsbedingten Wirkungen und Nebenwirkungen auszuprobieren. Zunächst einmal entfallen aber die operations- und narkosebedingten Risiken, da die Anwendung am wachen, unbetäubten Hund erfolgt.
Alle Nebenwirkungen, die mit dem Entzug des Testosterons zusammenhängen, sind auch bei dem Implantat zu erwarten – allerdings erst etwa sechs Wochen nach der Verabreichung. Hier sind unter anderem testosteronabhängige Verhaltensweisen wie Harnmarkieren, aber auch Stoffwechselveränderungen und ein gesteigerter Hunger nach Kastration zu nennen. Inwiefern möglicherweise heute diskutierte andere Langzeitfolgen der chirurgischen Kastration, etwa das gehäufte Auftreten bestimmter Tumoren, auch nach Dauergabe von GnRH-Agonist-Implantaten gehäuft auftreten, ist bislang unbekannt.
Wann muss das Implantat erneuert werden und ist der Hund nach Abklingen der Wirkung wieder zeugungsfähig?
Prof. Dr. Sandra Goericke-Pesch: Wird ein Implantat mit dem Ziel einer dauerhaften Unfruchtbarmachung verabreicht, sollte das 4,7 mg-Implantat laut Herstellerangaben alle sechs Monate, das 9,4 mg-Implantat alle zwölf Monate verabreicht werden.
Steht eine „Kastration auf Probe“ im Vordergrund, kann die erneute Behandlung nach Wirkende des Implantats – erkennbar an erneutem Interesse an läufigen Hündinnen, dem Wachstum der Hoden beziehungsweise dem Anstieg des Testosteronspiegels im Blut – erfolgen. Dieser Zeitpunkt kann bei beiden Implantaten im Einzelfall erheblich von den vorgeschlagenen Re-Implantationsintervallen abweichen. Was die Wiedererlangung der Zeugungsfähigkeit betrifft, ist die Datenlage begrenzt.
Die derzeit vorliegenden Erkenntnisse deuten darauf hin, dass erste Spermien nach frühestens 9 Wochen zu erwarten sind, eine normale Spermaqualität circa 25 Wochen nach Wirkende. Allerdings ist ein Wiedererlangen der Zeugungsfähigkeit nicht garantiert, da möglicherweise während der Wirkdauer unbemerkt Infektionen ablaufen können oder der Rüde bereits vor der Behandlung nicht fruchtbar war.
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