Hilfesystem für gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder: „Der Bedarf ist nicht gedeckt!“
Sprachen im Rathaus Rosenheim über die Bedarfsstudie zum Hilfesystem für gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder in Südostbayern: Andrea Rosner, stellvertretende Landrätin, Dr. Beate Burkl, 3. Bürgermeisterin, Projektleiterin Dr. Monika Schröttle sowie Beate Sewald, Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Rosenheim, und Bettina Bauer, Gleichstellungsbeauftragte des Landratsamtes Rosenheim. Foto: okk

Hilfesystem für gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder: „Der Bedarf ist nicht gedeckt!“

Jede vierte Frau erlebt ab dem 16. Lebensjahr körperliche oder sexuelle Gewalt durch einen Partner. 64 Prozent davon mit Verletzungsfolgen. Sechs Prozent der Frauen berichten von Mustern schwerer körperlicher, sexueller und psychischer Misshandlungen in der aktuellen Paarbeziehung. Weitere elf Prozent von erhöhter psychischer Gewalt. Eine aktuelle Studie hat das Hilfesystem für gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder in Bayern untersucht. Projektleiterin Dr. Monika Schröttle hat die Ergebnisse für Südostbayern im Rathaus Rosenheim vorgestellt.

Jährlich sind in Bayern über 140.000 Frauen akut von körperlicher oder sexueller Partnergewalt betroffen, darunter 90.000 schwer. Über 55.000 Frauen werden Opfer von sexueller Gewalt im Erwachsenenleben. Nur ein kleiner Teil von ihnen – zwischen 6000 und 9000 Betroffene – sucht oder erhält professionelle Hilfe im spezialisierten Unterstützungssystem, zu dem Frauenhäuser und Fachberatungsstellen gehören. Ob und in welchem Maße sie die Versorgungsengpässe und -lücken schließen, war bislang unklar.

Die „Studie zur Bedarfsermittlung zum Hilfesystem für gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder in Bayern“ hat empirisch und sekundäranalytisch Daten erhoben, um die aktuelle Situation zu erfassen. Das Forschungsprojekt wurde vom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration (StMAS) im September 2014 in Auftrag gegeben und bis Ende 2015 unter der Leitung von Dr. Monika Schröttle am Institut für empirische Soziologie (IfeS) an der Universität Erlangen-Nürnberg durchgeführt. Für Südostbayern hat Schröttle die Ergebnisse separat zusammengefasst und rund 40 Vertreterinnen und Vertretern des Runden Tisches „Häusliche Gewalt“ von Stadt und Landkreis Rosenheim, der Fachberatungsstellen aus den Landkreisen Miesbach, Traunstein und Berchtesgadener Land, den Rosenheimer Stadt- und Kreisräten sowie Kirchenvertretern vorgestellt. Ihnen sollen die Ergebnisse laut Beate Sewald, Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Rosenheim, als Entscheidungsgrundlage dienen.

Problemlagen in Bayern

Bayernweit gibt es laut Schröttle diverse Lücken. Zunächst sei der Bedarf an Frauenhausplätzen unzureichend. Im Freistaat würden mindestens so viele Frauen von Frauenhäusern aus Kapazitätsgründen abgewiesen wie aufgenommen werden können. Zurückzuführen sei dies zum Teil auf fehlenden Wohnraum. Das zwinge Frauen oft, länger in den Frauenhäusern zu verbleiben, wodurch weniger Plätze für neue Schutzsuchende frei werden. Zudem seien die Stellenkapazitäten in den Frauenhäusern für die fachgerechte Arbeit unzureichend. Und die Finanzierung sei vielfach nicht so ausgestaltet, dass eine Kostenübernahme für auswärtige Frauen problemlos gewährleistet ist.

Zugleich seien die Kapazitäten für die Beratung gewaltbetroffener Frauen in Frauenberatungsstellen und Frauennotrufen vor dem Hintergrund eines sehr hohen Beratungsaufkommens und einer erforderlichen erhöhten Beratungsintensität deutlich zu gering bemessen und decken den aktuellen Bedarf nicht. Außerdem stünden für Unterstützung und Begleitung der Kinder vor Ort zu wenige Möglichkeiten zur Verfügung. Für gewaltbetroffene Frauen und deren Kinder fehlten überdies zeitnahe Therapiemöglichkeiten.

Bestimmte Zielgruppen wie Flüchtlingsfrauen, Frauen mit Migrationshintergrund, Frauen, die von Zwangsverheiratung, Menschenhandel und Zwangsprostitution betroffen sind, Frauen mit Behinderungen, mit Sucht- und psychischen Erkrankungen oder mit Multiproblemlagen könnten durch die bestehenden Angebote nur unzureichend geschützt und unterstützt werden. Schließlich sei mehr Gewaltprävention erforderlich und im Sinne einer Gesamtverantwortlichkeit eine stärkere Kooperation von kommunaler Ebene und Landesebene.

Problemlage in Südostbayern

Im Großraum Miesbach, Rosenheim, Traunstein und Berchtesgadener Land erleben laut Berechnungen von Schröttle jährlich mindestens 3000 Frauen erzwungene sexuelle Gewalthandlungen. Weitere knapp 8000 Frauen seien von schwerer körperlicher/sexueller Misshandlung durch den aktuellen Partner betroffen. Zudem liege die Zahl der Opfer schwerer psychischer – ohne körperliche – Gewalt bei 14.500. Mindestens rund 8000 Frauen seien akut von schwerer körperlicher, sexueller Partnergewalt betroffen. Nur ein Teil von ihnen suche oder erhalte derzeit professionelle Hilfe im spezialisierten Unterstützungssystem für gewaltbetroffene Frauen: beispielsweise verzeichnete der Frauennotruf Rosenheim letztes Jahr rund 1000 Kontakte. Dennoch müssten trotz Hilfebedarfs Frauen abgewiesen werden: Das Frauenhaus Rosenheim konnte 2015 rund 120 Frauen nicht aufnehmen – darunter 70 wegen Platzmangels und 30 aufgrund nicht vorhandener regionaler Zuständigkeit.

Der Europaratskonvention zufolge sollte ein Frauenhaus pro Region vorhanden sein, ein Familienplatz auf 10.000 Einwohner kommen und eine Fachberatungsstelle für von sexualisierter Gewalt betroffene Frauen für 200.000 Einwohner zur Verfügung stehen. Tatsächlich habe jedoch nicht jeder angesprochene Landkreis ein Frauenhaus, im Freistaat waren es im Jahr 2014 insgesamt 40. Das von der Frauenhauskoordinierung empfohlene Verhältnis von einem Schutzplatz pro 7500 Einwohner liege in der Region lediglich bei 1:85.560, das Verhältnis von einem Schutzplatz für die Kinder der Frauen pro 7500 Einwohner real nur bei 1:38.000. Selbst den Schlüssel der gemeinsamen Empfehlungen des Staatsministeriums, des Bayerischen Landkreistages, des Bayerischen Städtetages und des Verbands der bayerischen Bezirke werde nicht erfüllt. Schröttle spricht daher von einer „starken Unterversorgung“.

Eine 90-prozentige Auslastung in Stadt und Landkreis Rosenheim führe in Spitzenzeiten beim Frauenhaus zu einer hohen Abweisungsquote. Zugleich sollte die geforderte Aufenthaltsdauer von drei Monaten um vier Wochen erhöht werden. Außerdem fehlten eine Traumaambulanz und spezielle Zimmer, die Räume seien nicht barrierefrei. Schwer erreicht würden unter anderen: behinderte und obdachlose Frauen, Opfer von Menschenhandel und Genitalverstümmelung, Flüchtlingsfrauen und Frauen aus gehobenen Bildungs- und Sozialschichten. Die interinstitutionelle Vernetzung sei gut, aber verbesserungswürdig mit Blick auf die Jugendämter. Sowohl beim Frauenhaus als auch beim Frauen- und Mädchennotruf sollten die Kapazitäten ausgebaut werden. Beide seien in der Region zur festen Institution avanciert, ihre Finanzierung wäre jedoch schwierig.

Empfehlungen

Die Studie empfiehlt sechs Maßnahmen: erstens den Ausbau der Frauenhausplätze und flankierende Maßnahmen zur besseren Weitervermittlung freier Plätze, zweitens die Erhöhung der personellen Kapazitäten in Frauenhäusern, Fachberatungsstellen, Notrufen und Interventionsstellen, drittens die Überarbeitung der Bayerischen Richtlinien für Frauenhäuser und Frauennotrufe, viertens Maßnahmen zur Qualitätssicherung und zum zielgruppenspezifischen Ausbau, fünftens den gezielten Ausbau von Präventionsmaßnahmen im Bereich primärer, sekundärer und tertiärer Prävention sowie sechstens das bayernweite Vernetzen, Koordinieren und Monitoring. Langfristig müsse darauf hingewirkt werden, dass Gewalt gegen Frauen nachhaltig abgebaut werde. Deshalb sollte der Gewaltprävention hohe Priorität zukommen. Zudem sollten der Schutz und die Unterstützung gewaltbetroffener Frauen und ihrer Kinder bayernweit gewährleistet werden. Die 135-seitige Studie ist online abrufbar unter http://tinyurl.com/j6qloyz.

Olaf Konstantin Krueger

Runder Tisch „Häusliche Gewalt“

Ansprechpartner für Betroffene und Ratsuchende in Rosenheim

  • Frauen- und Mädchennotruf Rosenheim e. V., Ludwigplatz 15, 83022 Rosenheim, Tel. 0 80 31/26 88 88. Niedrigschwelliges Beratungs- und Begleitungsangebot bei sexueller und häuslicher Gewalt. Vertrauliche udn kostenfreie Beratung in Krisensituationen, bei Bedarf mit Dolmetscherein.
  • Weißer Ring, Stadt Rosenheim, Tel. 0 80 52/9 56 66 99, Landkreis Rosenheim, Tel. 0 80 35/96 74 93. Hilfe für Kriminalitätsopfer und ihre Familien, Beratungschecks für anwaltliche und psychotraumatologische Erstberatung, Hilfe zur Durchsetzung sozialrechtlicher Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz.
  • Frauenhaus Rosenheim, Tel. 0 80 31/38 14 78. Schutzhaus für Frauen ab 18 Jahren und ihre Kinder, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Telefonische Beratung und Aufnahme rund um die Uhr. Persönliche Beratung nach telefonischer Absprache. Vielfältige Unterstützung, auch bei der Sicherstellung des Lebensunterhaltes.
  • Männerberatungsgesellschaft, Innstraße 72, 83022 Rosenheim, Tel. 0 80 31/30 09 10 42. Einzelberatung und Gruppenprogramm für Männer zu Beziehungsgewalt und Stalking.
  • Polizei, Beauftragte der Polizei für Frauen und Kinder, Kaiserstraße 32, 83022 Rosenheim, Tel. 0 80 31/2 00 10 88. Information und Unterstützung bei häuslicher und sexueller Gewalt, Stalking sowie Kindeswohlgefährdung via telefonische und persönliche Beratung.

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