Rott a.Inn/Rosenheim/München — Das Landratsamt Rosenheim hat im Gewerbegebiet „Am Eckfeld“ in Rott a.Inn ein Gebäude für die Erstaufnahme von Migranten angemietet. Der 3.000 Quadratmeter große Industriebau soll nach dem Umbau zur Ankunftseinrichtung Platz bieten für mehr als 250 „Ankommende“. Dadurch könnten die seit einem Jahr belegten Turnhallen in Bruckmühl und Raubling wieder den Schulen und Vereinen für den Sport zur Verfügung gestellt werden. Mangels anderer Angebote im Landkreis ist der Standort in Rott laut Landrat Otto Lederer „alternativlos“. Er habe daher Rotts Ersten Bürgermeister Daniel Wendrock telefonisch über die Entscheidung informiert. Doch die Gemeinde hält dies für „eine grundlegende Fehlentscheidung“, kündigt „massiven Widerstand“ an. Die Aufnahmefähigkeit des rund 4.200 Einwohner großen Ortes sei „bei weitem“ überschritten, die Infrastruktur nicht dafür ausgelegt. Während Lederer auf die Migrationspolitik der Bundesregierung verweist, durch die den Landräten „faktisch die Hände gebunden“ wäre, verspricht Wendrock einen politisch „heißen Herbst“. Und die AfD thematisiert das Projekt im Bayerischen Landtag.
„Wenn ich so mit dem Rücken zur Wand stehe, muss ich mich wehren“, betont Daniel Wendrock (BfR), Erster Bürgermeister von Rott a.Inn. Ohne vorherige Rücksprache mit der Gemeinde habe der Landkreis Rosenheim im Rotter Gewerbegebiet „Am Eckfeld“ einen 3.000 Quadratmeter großen Industriebau für die Erstaufnahme von Migranten angemietet. Im nächsten Schritt solle bei der Gemeinde ein Bauantrag auf Nutzungsänderung gestellt, dann das Gebäude als Ankunftseinrichtung ertüchtigt werden. Über die Entscheidung habe Landrat Otto Lederer (CSU) Wendrock am Mittag des Tages nach der Landtagswahl telefonisch informiert. „Mir fiel die Gabel aus der Hand“, beschreibt Wendrock seine Fassungslosigkeit.
Ziel ist laut Landratsamt, die seit einem Jahr mit Migranten belegten Turnhallen in Bruckmühl und Raubling wieder den Schulen und Vereinen für den Sport zur Verfügung zu stellen sowie die ankommenden Personen von Beginn an „adäquat“ unterzubringen. Dementsprechend soll die Ankunftseinrichtung in Rott die Kapazitäten der beiden Turnhallen ersetzen, in denen sich rund 260 Personen aufhielten. Eine geeignete Immobilie in ausreichender Größe wäre lange Zeit nicht zu finden gewesen, weshalb der Standort in Rott mangels anderer Angebote „alternativlos“ wäre. Die Migranten sollen nach einer Verweildauer von etwa zwei Monaten „möglichst gleichmäßig“ auf die dezentral angemieteten Liegenschaften im Landkreis verteilt werden. So ist dem Landratsamt zufolge nicht zu erwarten, dass die Schulen und Kindergärten der Gemeinde Rott a.Inn über Gebühr zusätzlich belastet werden.
Wendrock: „Grundlegende Fehlentscheidung“
Die Gemeinde wehrt sich dennoch gegen die geplante Ankunftseinrichtung. Da die freiwerdenden Plätze kontinuierlich durch neue Migranten belegt würden, schätzt Wendrock, dass die Einrichtung für alle in Rosenheim Ankommenden auf absehbare Zeit bestehen bleibt. Gegen diese „grundlegende Fehlentscheidung“ will Rott a.Inn „massiven Widerstand“ leisten. Dies begründet Wendrock mit kommunalen, infrastrukturellen und humanitären Gesichtspunkten.
Zunächst sei es „grundlegend falsch, dass Aufnahmeeinrichtungen in zwei Gemeinden, die zusammen über 30.000 Einwohner haben, zu Lasten einer Gemeinde mit etwas mehr als 4.000 Einwohnern aufgelöst werden“. Damit wachse Rotts Bevölkerung quasi über Nacht um zirka acht Prozent, was die Aufnahmefähigkeit des Ortes „bei weitem“ überschreite. Selbst bei kurzer Verweildauer benötigten die Menschen ein Mindestmaß an Gesundheitspflege, an Freizeitbeschäftigung, an Integration. Der Standort im Gewerbegebiet liege jedoch fernab jedweder Versorgungseinrichtung.
Dem Landratsamt und dem Wasserwirtschaftsamt sei zudem bekannt, dass die Rotter Kläranlage altersbedingt an ihrer Kapazitätsgrenze sei, weshalb neu geplant werde und technisch kaum 300 neue Nutzer angeschlossen werden könnten. Überdies stehe die baurechtliche Zulässigkeit des Vorhabens in Frage. Eine Unterkunft für mehrere hundert Personen in einem Gewerbegebiet mit Schwerlastverkehr und Emissionen, ohne Außenanlage und Wohninfrastruktur sei eine „städtebauliche Fehlentwicklung“, welche die Gemeinde mit Fachanwälten juristisch anzugreifen gedenke.
Und: „Unser Ort hat sich in der Vergangenheit als offene, fremdenfreundliche Gemeinde bewiesen, die schon weit über hundert hier dauerhaft lebende Flüchtlinge erfolgreich integriert hat.“ Deren Zahl sei überschaubar gewesen, ihre Verteilung dezentral. Die Sammelunterkunft beherberge hingegen hunderte Menschen auf engstem Raum – Konflikte seien vorprogrammiert, könnten tendenziell auch in den Ort hineingetragen werden. Die Grenze der Integrationsfähigkeit sei eindeutig überschritten. „Das machen wir so nicht mit“, betont das Gemeindeoberhaupt.
Schließlich kritisiert Wendrock, dass er „ohne vorherige Rücksprache vor vollendete Tatsachen gestellt“ worden sei. Auch wenn nun eine umfassende Bürgerinformation folgen soll, an der auch Landrat Lederer teilnehme, zeigt sich Wendrock über den Umgang verärgert, will medial und juristisch Widerstand leisten und verspricht dem Landratsamt einen politisch „heißen Herbst“.
Lederer: „Hände gebunden“
Landrat Lederer wiederum kann zwar „absolut nachvollziehen“, dass die geplante Ankunftseinrichtung bei den betroffenen Anwohnern Sorgen und Bedenken hervorruft, erklärt jedoch auf Nachfrage: „Solange die Bundesregierung ihre derzeitige Migrationspolitik nicht grundsätzlich überdenkt, bleiben mir und den anderen Landrätinnen und Landräten faktisch die Hände gebunden.“ Ihre dringenden wie konkreten Forderungen lägen den zuständigen Entscheidungsträgern in Berlin seit geraumer Zeit vor. „Bis dahin muss ich die Bürgerinnen und Bürger um Verständnis dafür bitten, dass die Obdachlosigkeit von uns zugewiesenen Personen keine gangbare Alternative darstellt. Mangels ausreichender Angebote ist eine gerechtere Verteilung auf die 46 Kommunen des Landkreises derzeit leider nicht möglich.“ Daher appelliert Lederer an die Solidarität aller anderen Städte, Märkte und Gemeinden im Landkreis Rosenheim, das Landratsamt bei der Suche nach geeigneten Unterkünften und Grundstücken zu unterstützen.
Die ungeregelte Zuwanderung und ungelöste Migrationsprobleme waren bei den Landtagswahlen am 8. Oktober in Bayern und Hessen teilweise wahlentscheidend und trugen zum Stimmenzuwachs der migrationskritischen AfD bei. In Umfragen verlangte die Mehrheit der Befragten einen Kurswechsel in der Migrationspolitik der Bundesregierung. Der Landkreistag warnt seit Monaten vor Überlastungen durch immer mehr Ankommende, setzt sich für eine Umstellung von Geld- auf Sachleistungen für Asylbewerber sowie eine Arbeitspflicht für Geflüchtete ein. Die Ampel-Parteien wollen nun mit einem Gesetzentwurf Abschiebungen erleichtern und beabsichtigen, noch bestehende Arbeitsverbote für Geflüchtete größtenteils aufzuheben.
Winhart: „Fader Beigeschmack“
Für den wiedergewählten Rosenheimer Landtagsabgeordneten Andreas Winhart (AfD) hat das Vorgehen des Landratsamtes „einen faden Beigeschmack“. Landrat Lederer „war wohl deutlich früher informiert und hat aus wahltaktischen Gründen die Nachricht erst am Montag nach der Wahl weitergegeben. Ob er in diesem Fall seine Neutralitätspflicht verletzt hat, ist zu prüfen.“ Dazu hat Winhart der Bayerischen Staatsregierung eine schriftliche Anfrage übermittelt, mit der unter anderem geklärt werden soll, wie der Kontakt zum Eigentümer des Industriebaus zustande kam, wann der Mietvertrag geschlossen wurde, welche Kosten der Freistaat Bayern und der Landkreis Rosenheim für die Ertüchtigung übernehmen und bis wann das Gebäude genutzt wird.
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