Berlin/Mühldorf a.Inn/Rosenheim — Deutschland, die größte Volkswirtschaft der Europäischen Union und nach den USA, China und Japan die viertgrößte der Welt, schlittert in eine Rezession. Energiekrise und Geldentwertung verschlechtern die Finanzlage der Kommunen, Unternehmen und Verbraucher. Eine Mehrheit der Bundesbürger zweifelt bereits an der Versorgungssicherheit, befürchtet Gas- und Stromausfälle. Debattiert werden „Brownouts“, bei denen die Übertragungsnetzbetreiber einzelne Großverbraucher oder ganze Regionen stundenweise vom Netz nehmen, sowie „Blackouts“, unkontrollierte Zusammenbrüche der Elektrizitätsversorgung. Drei Monate vor Heiligabend sinnieren viele Kommunen über Energiesparmöglichkeiten zu Weihnachten und geben Verhaltenstipps bei Stromausfall.
Energiekrise und Geldentwertung haben dramatische, teils existenzgefährdende Folgen für Unternehmen und Verbraucher. Laut ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e. V. – hat sich die Stimmung in der deutschen Wirtschaft „deutlich verschlechtert“: Das Ifo-Geschäftsklima, ein Mittelwert aus den Salden der Geschäftslage und der Erwartungen von rund 9.000 monatlich befragten Unternehmen, ist auf den niedrigsten Stand seit Mai 2020 gefallen. Die Unternehmen bewerteten sowohl ihre aktuelle Lage als auch die zu erwartende Entwicklung schlecht. „Bitterernst“ nennt der Bayerische Industrie- und Handelskammertag (BIHK) e. V. die Lage: In seinem „Energiewendebarometer 2022“ erklären branchenübergreifend 44 Prozent der Betriebe, dass sie wegen der hohen Energiepreise am Standort Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig seien. Mehr als ein Viertel der bayerischen Betriebe investiere vorerst nicht mehr in die Aufrechterhaltung des eigenen Kerngeschäfts, knapp ein Fünftel stelle seine Investitionen in den „Klimaschutz“ ein und 14 Prozent geben keine Gelder mehr für Forschung und Entwicklung aus.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sieht die deutsche Wirtschaft bereits mitten in einer Rezession, da Energiepreissteigerungen auf der einen und Unsicherheit auf der anderen Seite die realen Umsätze und Geschäftserwartungen dämpften. Perspektivisch wird die Wirtschaftsleistung (BIP) nach Berechnungen des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der arbeitnehmernahen Hans-Böckler-Stiftung im Jahr 2023 um ein Prozent schrumpfen. Stark betroffen: der Mittelstand. Der Bundesverband mittelständische Wirtschaft (Der Mittelstand, BVMW e. V.) warnt, die Vervielfachung der Rohstoff- und Energiepreise gefährde die Existenz vieler Firmen.
Unternehmen und Betriebe bangen um Existenz
Ganze Branchen sind bedroht. So qualifiziert der Bundesarbeitgeberverband Chemie e. V. (BAVC) die Situation seiner Branche als düster: Ein Fünftel der Unternehmen sehe ihre wirtschaftliche Existenz gefährdet, wenn die Preise für Rohstoffe oder Energie auf dem jetzigen Niveau bleiben und nicht wieder sinken. Der Deutsche Tourismusverband e. V. (DTV) rechnet angesichts hoher Energiepreise mit einem harten Winter für die Branche und warnt vor Betriebsschließungen. Die Fédération Internationale de Ski (FIS), der internationale Ski-Verband, schließt Absagen von Weltcups im nordischen und alpinen Skisport nicht aus. Traditionsfirmen wie der Schuhhändler Görtz und der Toilettenpapier-Hersteller Hakle haben Insolvenz angemeldet, der weltgrößte Stahlkonzern ArcelorMittal hat seine Produktion zurückgefahren und die Kurzarbeit ausgeweitet, Deutschlands größter Gashändler Uniper wird verstaatlicht, um den angeschlagenen Energiekonzern vor der Insolvenz zu bewahren.
Auch die Nahrungsmittelproduktion ist gefährdet. Da die Herstellung der meisten Düngemittel energieintensiv ist und Erdgas sowohl als Rohstoff als auch als Energiequelle im Produktionsprozess benötigt wird, geht unter dem Preisdruck die Menge der in Deutschland abgesetzten Produkte deutlich zurück: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes haben sich die Erzeugerpreise für Düngemittel und Stickstoffverbindungen alleine im August zum Vorjahresmonat mehr als verdoppelt (plus 108,8 Prozent).
Folgeeffekt: Der Ernährungsindustrie fehlt Kohlensäure für Produktions- und Verpackungsprozesse. Kohlensäure entsteht, sobald sich CO2 im Wasser löst. Ein Kohlensäuremangel betrifft Brauer, Mineralwasserhersteller und Gastronomie. So hat etwa die Aktienbrauerei Kaufbeuren ihre Produktion von Limonade eingeschränkt. Der Deutsche Bauernverband und weitere Agrarverbände warnen obendrein, die steigenden Energiepreise gefährdeten die Existenz der Unternehmen der Obst-, Gemüse-, Gartenbau- und Kartoffelwirtschaft: Die Betriebe könnten die Kostensteigerungen nicht am Markt weitergeben, da der Lebensmittelhandel aufgrund abnehmender Kaufkraft der Verbraucher zunehmend auf preiswertere Importware zurückgreife. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat bereits erklärt: „Wir müssen uns darauf einstellen, dass auch die Lebensmittelpreise steigen.“
Konsumklima im Allzeittief
Unterdessen meldet das Konsumforschungsunternehmen GfK beim Konsumklima ein Allzeittief seit Beginn der Erhebungen im Jahr 1991: Die hohen Inflationsraten von knapp acht Prozent führten zu großen realen Einkommenseinbußen unter den Verbrauchern und damit zu deutlich geschrumpfter Kaufkraft. Zahlreiche Haushalte seien gezwungen, viel mehr Geld für Energie auszugeben und für deutlich höhere Heizkostenabrechnungen zurückzulegen, somit beim Konsum zu sparen. Konkret wollen sich nach einer Umfrage vom Handelsverband Deutschland – HDE e. V. 60 Prozent der Verbraucher beim Einkaufen einschränken, insbesondere bei Mode und Bekleidung. Laut einer Erhebung des Innovationsdienstleisters Zühlke sparen vier von zehn Menschen in Deutschland höchstens 100 Euro im Monat. Jeder Zehnte (elf Prozent) könne gar nichts auf die hohe Kante legen, weil am Monatsende kein Geld übrig sei.
Derweil laufen immer mehr Menschen Gefahr, in Altersarmut abzurutschen. Einer Auswertung des Statistischen Bundesamtes zufolge ist die Armutsgefährdungsquote bei Menschen über 65 Jahren von 2018 bis 2021 von 14,7 auf 17,4 Prozent gestiegen: Fast jeder Sechste der über 65-Jährigen hat weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) der Bevölkerung zur Verfügung. Und der Dachverband Tafel Deutschland e. V. beschreibt die Lage aller 960 Tafeln als „extrem angespannt“: Die Zahl der Bedürftigen steige, unter ihnen seien immer mehr mit einem Job, vielerorts gebe es bereits einen Aufnahmestopp und da der Lebensmittelhandel weniger Lebensmittel verschwendete, werde die Versorgung der Bedürftigen schwierig. Folglich häufen sich mittlerweile bundesweit die Demonstrationen gegen Energiemangellage, Geldentwertung und infantile Energiespar-Tipps der Bündnisgrünen.
„Lastunterdeckungen“ wahrscheinlich
Zwar ist abseits der politischen Debatten um „Energiepreisdeckel“ und „Entlastungspakete“ Bundeswirtschaftsminister Dr. Robert Habeck (Bündnis 90/DIE GRÜNEN) zuversichtlich, dass Deutschland gut durch den Winter kommt, sofern viel Energie eingespart werde und man Glück mit dem Wetter habe. Schon legendär sind dabei die Dusch-Tipps von Katrin Göring-Eckardt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, sowie die Waschlappen- und Thermostat-Empfehlungen von Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg (beide Bündnis 90/DIE GRÜNEN).
Dennoch bewerten die vier Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) 50Hertz, Amprion, TenneT und TransnetBW die Versorgungssituation im Winter als „äußerst angespannt“. So könnten mehrstündige „Lastunterdeckungen“ auftreten, in denen die Stromnachfrage höher ist als das Angebot. Reiche die Kraftwerksleistung nicht aus, um Netzengpässe zu vermeiden, würden aus dem Ausland mindestens 5,8 Gigawatt gesichertes Ausgleichspotenzial benötigt, was etwa der Leistung von vier großen Kernkraftwerken entspreche. Die ÜNB empfehlen daher „dringend“ die „Nutzung aller Möglichkeiten zur Erhöhung der Strom-, Erzeugungs- und Transportkapazitäten“.
Solche Szenarien besorgen mehr als jeden dritten Erwachsenen im früheren Technikmusterland: Laut „Deutschlandtrend“ von Infratest dimap rechnen 39 Prozent der Befragten damit, im Winter Energierechnungen nicht oder nur mit erheblichen Schwierigkeiten bezahlen zu können. Und gut ein Drittel (36 Prozent) befürchtet Ausfälle in der Strom- und Gasversorgung. Bereits ohne Energiekrise haben unbezahlte Rechnungen laut Monitoringbericht 2021 der Bundesnetzagentur im Jahr 2020 zu über 230.000 Stromsperren geführt, angedroht haben sie die Stromanbieter etwa 4,2 Millionen Mal.
Manche Verbraucher haben inzwischen mit der Anschaffung neuer Geräte reagiert: Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov zufolge haben sich elf Prozent der Bundesbürger ein neues strombetriebenes Heizgerät gekauft, 13 Prozent einen Ofen, der mit Kohle, Holz, Hackschnitzeln oder Pellets für Wärme sorgt, zehn Prozent eine Solaranlage und sieben Prozent eine Windkraftanlage. Wenn aber wegen der galoppierenden Energiepreise ein Holzkohlegrill zum Beheizen der Wohnung herhalten soll, kann das lebensbedrohlich werden: So mussten kürzlich in Mühldorf a.Inn zwei Personen wegen einer Kohlenmonoxid-Vergiftung ins Krankenhaus gebracht werden. Die Polizei warnt nun dringend davor, Holzkohle- oder Gasgrills in geschlossenen Räumen zu betreiben, da sich innerhalb kurzer Zeit Verbrennungsgase wie das unsichtbare und geruchslose Kohlenmonoxid verbreiten.
Kommunen präparieren sich für Notlagen
Unterdessen wird die Energiekrise auch für die Kommunen zum Problem. Beispielsweise melden immer mehr der 900 Stadtwerke in Deutschland Liquiditätsprobleme, weshalb der Deutsche Städtetag vor dem Aus für einzelne oder mehrere der Energieversorger warnt. Nach den Worten des Präsidenten, Oberbürgermeister Markus Lewe aus Münster, müssten die Stadtwerke immer mehr Geld in die Hand nehmen, um ihre Angebote aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig könnten viele Menschen ihre Energierechnungen nicht mehr bezahlen. Sein Appell: Der Bund müsse umgehend einen „Rettungsschirm“ für kommunale Energieversorger spannen und das Insolvenzrecht anpassen. Der Deutsche Landkreistag e. V. (DLT), kommunaler Spitzenverband aller 294 Landkreise, fordert überdies eine Deckelung der Strom- und Gaspreise: „Bürger und Betriebe können die steigenden Kosten für Gas und Strom sowie die hohe Inflation vielfach nicht mehr tragen“, erklärt DLT-Präsident Reinhard Sager, Landrat des Kreises Ostholstein.
Unkontrollierte Zusammenbrüche der Elektrizitätsversorgung machen indes Dr. Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes (DStGB), Sorgen: „Wir sind auf einen Blackout zu wenig vorbereitet“, meint Landsberg. Dabei beschäftigen sich viele Kommunen seit geraumer Zeit mit Notfallplänen – etwa Pfaffenhofen, Neuburg-Schrobenhausen, Eichstätt und Rosenheim. Die kreisfreie Stadt Rosenheim hat erst kürzlich den Flyer „Ratgeber für die Eigenvorsorge“ herausgegeben, der online abrufbar ist unter rosenheim.de.
Und obschon Weihnachtsmärkte ein wichtiger Bestandteil der Lebensqualität und relevanter Wirtschafts- und Standortfaktor sind, gehören auch hier Energiesparmaßnahmen zum Werkzeugkasten der Kommunen: Entweder wird bereits energiesparende LED-Technik eingesetzt oder die Weihnachtsbeleuchtung reduziert. So bleiben etwa in Berlin Einkaufsboulevards wie Kurfürstendamm, Tauentzienstraße und Unter den Linden unbeleuchtet. Essen verzichtet ganz auf „atmosphärische Lichtelemente“ und schaltet die Beleuchtung der Marktstände deutlich später ein.
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