Mühldorf a.Inn/Rosenheim/Traunstein — Effizienzsteigernd, zeitsparend, bedienungsfreundlich: In der Justiz werden die elektronische Aktenführung (E-Akte) und der elektronische Rechtsverkehr (ERV) zur Regel. In Bayern arbeiten mittlerweile 16 der 22 Landgerichte in erstinstanzlichen Zivilverfahren mit E-Akten, bis Ende 2022 soll dies an allen Landgerichten Routine sein. „Die Welt wird immer digitaler“, konstatiert der bayerische Staatsminister der Justiz, Georg Eisenreich, und erklärt: „Die Justiz treibt die Digitaloffensive voran.“ So setzt auch das Amtsgericht Rosenheim seit Ende Mai die E-Akte im Regelbetrieb in Familiensachen ein, die Amtsgerichte Mühldorf a.Inn und Traunstein folgen in 2023. „Das verkürzt Verfahren, erspart Wartezeiten und schützt in Zeiten der Pandemie die Gesundheit der Prozessbeteiligten“, erläutert Eisenreich. Während die Corona-Krise über die gesetzliche Notwendigkeit hinaus die digitale Transformation der Justiz beschleunigt, sollen Videoverhandlungen auch grenzüberschreitend möglich werden.
Prozessakten sind spätestens ab dem 1. Januar 2026 verpflichtend elektronisch zu führen. Dies bestimmt das „Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs“ vom 5. Juli 2017 (BGBl. 2017 I 2208). Das Gesetz enthält verschiedene Verordnungsermächtigungen für die Einführung der elektronischen Aktenführung (E-Akte), des elektronischen Rechtsverkehrs (ERV) mit Strafverfolgungsbehörden und Gerichten sowie die Pflicht zur elektronischen Übermittlung von Dokumenten. Die Landesregierungen können den Zeitpunkt selbst bestimmen, von dem an E-Akte und ERV eingeführt werden.
Bayern hat den ERV inzwischen an allen Gerichten im Freistaat implementiert. Da für die elektronische Aktenführung 127 Standorte mit rund 15.000 Arbeitsplätzen umzustellen sind, ist der Einführung eine mehrjährige „Pilotierung“ vorangegangen, bei der über 80.000 Verfahren ausschließlich digital vollzogen wurden. Die Erfahrungen mit der Pilotierung sind aus Sicht des Bayerischen Staatsministers der Justiz und Münchener Rechtsanwalts Georg Eisenreich, MdL (CSU), „sehr positiv“. Mittlerweile setzten zwei der drei bayerischen Oberlandesgerichte (OLG) sowie 16 der 22 bayerischen Landgerichte (LG) die E-Akte ein.
Umstellung nach Rechtsgebieten
Bei den Amtsgerichten (AG) ist die elektronische Aktenführung in Zivil- und Familienverfahren zunächst an den AG Dachau, Straubing und Regensburg pilotiert worden – mit guten Erfahrungen, so Eisenreich. Die Regeleinführung an allen 73 Amtsgerichten des Freistaates hat am 30. Mai begonnen, auch am AG Rosenheim. In den kommenden Monaten sollen weitere AG die E-Akte für den Regelbetrieb bei Zivil- und Familienverfahren übernehmen, die Amtsgerichte Mühldorf a.Inn und Traunstein in 2023. Sobald die LG auf die elektronische Aktenführung in zweitinstanzlichen Zivilverfahren umgestellt haben, kann durchgängig elektronisch gearbeitet werden.
Darüber hinaus erproben vier Amtsgerichte die E-Akte in besonderen Rechtsgebieten: Beim AG Kelheim in Grundbuchsachen, beim AG Erlangen in Betreuungsverfahren, beim AG Regensburg in Immobiliarvollstreckungssachen und beim AG Ingolstadt in Insolvenzverfahren. Weitere Fachgebiete sollen im Laufe des Jahres pilotiert werden.
Videoverhandlungen flankieren E-Akte
Neben der elektronischen Aktenführung sollen in der Justiz auch Videoverhandlungen gängig werden. Damit alle 99 bayerischen Gerichte Videoverhandlungen durchführen können, wurden bis Juli 2021 insgesamt 105 Videokonferenzanlagen installiert, einschließlich Video-Konferenz-Tool. Einer Pilotphase folgend sind sie inzwischen bayernweit für den Einsatz freigegeben. Ob sich ein Verfahren für eine Videoverhandlung anbietet, entscheidet der jeweilige Richter. Eisenreich zufolge wurden 2021 bereits rund 10.000 Videoverhandlungen durchgeführt.
Trotz dieser Entwicklung erkennt Eisenreich noch erheblichen rechtspolitischen Handlungsbedarf und fordert vom Bundesministerium für Justiz, das derzeit von Dr. Marco Buschmann, MdB (FDP), geführt wird, eine „Modernisierung des Zivilprozesses“: „Die Zivilprozessordnung ist für die Papierakte gemacht, nicht für die elektronische Akte“, betont der CSU-Politiker. „Der Bund muss jetzt tätig werden. Wir brauchen eine breit geführte Diskussion, die alle Akteure einbezieht: Gerichte, Anwaltschaft, Wissenschaft, Wirtschaft, Verbraucherverbände.“
Darüber hinaus solle das grenzüberschreitende Verhandeln erleichtert werden. So habe auf bayerische Initiative hin die Justizministerkonferenz schon im Frühjahr 2021 das damals von Christine Lambrecht (SPD) geleitete Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz aufgefordert, sich für eine umfassende Rechtsgrundlage zum Einsatz der Videokonferenztechnik auf EU-Ebene einzusetzen. Eisenreich appelliert: „Der Reformprozess ist dringend notwendig. Die Justiz will die Chancen der Digitalisierung nutzen. Jetzt sind Berlin und Brüssel gefordert.“
Ihre Meinung ist uns wichtig! Leserbriefe bitte an redaktion@blick-punkt.com oder über unser Kontaktformular.
Leserinnen und Leser dieses Beitrags interessierten sich auch für diese blick-Artikel:
• Mobile Raumluftreiniger sollen Virenlast in Schulen verringern: „AHA“-Regel wird zur „AHA-L“-Maßgabe (06.10.2020).
• „Corona-Warn-App“: Freiwilligkeit vs. Nutzungspflicht – Infizierte Arbeitnehmer haben Informationspflicht (17.06.2020).
• Kontaktverfolgung per Smartphone: „Corona-Warn-App“ ante portas (03.06.2020).
• Kontroverse um „Corona-Demos“: Legitime Kritik oder gefährliche Spinnerei? (26.05.2020).
• Corona-Krise beeinträchtigt Freizeitbranche: Fitnessclubs und Tanzschulen bangen um Existenz (13.05.2020).
• Schrittweise Unterrichtsaufnahme in der Corona-Krise: „Absolut schülerfreundlich“ (29.04.2020).
• Coronavirus-Epidemie hat regionale Folgen – Huml: „Ausbreitung verlangsamen“ (11.03.2020).
• Maßnahmen zum Infektionsschutz gegen das Coronavirus – Hierl: „Bewahren Sie einen klaren Kopf!“ (05.03.2020).