Berlin – Masern sind eine hoch ansteckende und potenziell lebensbedrohliche Infektionskrankheit. Dem „Robert Koch-Institut (RKI)“ in Berlin wurden für 2018 insgesamt 543 Masernerkrankungen im Bundesgebiet übermittelt. Im laufenden Jahr sind schon mehr als 300 Fälle registriert. Fast die Hälfte der Erkrankten sind junge Erwachsene. Die Impflücken sind groß: Zwar haben 97,1 Prozent der Schulanfänger die erste Impfung bekommen, doch bei der entscheidenden zweiten Impfung gibt es große regionale Unterschiede. Dadurch wird die erforderliche Impfquote von 95 Prozent, die eine Verbreitung der Masernviren verhindert, bundesweit nicht erreicht. Laut RKI haben die Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten und Kinderlähmung bei Schulanfängern bereits im dritten Jahr in Folge abgenommen. Bei Masern sind 361.000 Schulanfänger, mithin sieben Prozent, nicht ausreichend geschützt. Aufklärungskampagnen verpuffen. Nun will die Große Koalition zum 1. März 2020 eine Masern-Impfpflicht einführen. Sie soll für Kita- und Schulkinder, Lehrer und Erzieher sowie Mitarbeiter in Krankenhäusern und Arztpraxen gelten. Verweigerer müssen mit einem Bußgeld von bis zu 2500 Euro rechnen. Ungeimpfte Kinder könnten vom Kita-Besuch ausgeschlossen werden. Doch so einfach lässt sich das Problem nicht lösen.
Masern sind gefährlich: Die Ansteckungsquote liegt bei 100 Prozent. Über Speicheltröpfchen in der Luft kann man sich mit den Viren anstecken. Bricht die Krankheit nach einigen Tagen mit typischem Hautausschlag aus, können Komplikationen wie Lungen- oder Hirnhautentzündung (Meningitis) folgen. Das Risiko dafür steigt mit zunehmendem Alter. Spätfolge einer Maserninfektion kann eine Entzündung der Nervenzellen des Gehirns und des Rückenmarks sein. Das führt zum Ausfall von Gehirnfunktionen und zum Tod. Erst diese Woche ist ein an Masern erkrankter Erwachsener in Niedersachsen gestorben.
Menschen mit eingeschränktem Immunsystem und Schwangere können sich nicht gegen Masern impfen lassen. Sie sind auf eine möglichst große Anzahl an geimpften Personen in ihrem Umfeld angewiesen, die ihnen Schutz vor Ansteckung und Ausbreitung der Krankheit bieten. Nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) besteht eine Meldepflicht für bestimmte Krankheiten und Krankheitserreger wie Salmonellen, Enterohämorrhagische Escherichia coli (EHEC), Shigellen (Ruhr), Noroviren, Campylobacter, Rotaviren, Hepatitis, Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME), Influenza und Masern. Der behandelnde Arzt oder das untersuchende Labor muss die Infektion dem örtlich zuständigen Gesundheitsamt melden.
Die gesetzlichen Krankenkassen raten grundsätzlich, den eigenen Impfschutz regelmäßig vom Arzt kontrollieren und nötigenfalls vervollständigen zu lassen. Die Impfung gegen Masern zählt zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Sie übernehmen nach Rücksprache die Impfkosten auch für Personen, die vor 1970 geboren sind und keinen gesetzlichen Anspruch auf eine Impfung zu Kassenlasten haben, damit sich die Krankheit nicht weiter ausbreitet. Die Schutzimpfungsrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) regelt, wer wann wie geimpft werden soll. Grundlage sind die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) des RKI. Kinder erhalten zwei Mal eine Impfung, Erwachsene mit unzureichendem Impfstatus eine Impfung. Die STIKO empfiehlt für Kleinkinder im Alter von elf bis 14 Monaten die erste Impfung mit einem MMR-Kombinationsimpfstoff (Mumps-Masern-Röteln), mit 15 bis 23 Monaten erfolgt die zweite Impfung (Grundimmunisierung). Versäumte Impfungen sollen möglichst rasch bis zum Ende des 17. Lebensjahres nachgeholt werden.
Eigeninitiative versus Verpflichtung
Bayern ist weltweiter Vorreiter bei der Impfpflicht: Der Freistaat führte die Pocken-Impfpflicht bereits am 26. August 1807 ein. Die Weltgesundheitsorganisation schreibt sie erst seit 1967 vor. Die Pocken gelten seit 1980 als ausgerottet. „Impfungen sind ein wirksamer Schutz vor Erkrankungen und retten jeden Tag vielen hunderttausend Menschen weltweit das Leben“, betont Dr. Gerald Quitterer, Präsident der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK), in der Diskussion um eine gesetzliche Masern-Impfpflicht. Da aber die in den ersten zehn Wochen des laufenden Jahres gemeldeten Masern-Fälle noch innerhalb der normalen langjährigen Schwankungsbreite lägen, ist Quitterer gegen eine Impfpflicht. Nach Auskunft des Staatlichen Gesundheitsamtes Rosenheim etwa registrierte die Behörde seit dem Millennium jährlich zwischen null und sechs Masern-Fälle mit Spitzen in 2005 (18 Fälle), 2008 (67), 2013 (27) und 2015 (20). 2019 ist im Landkreis bislang ein Fall bekannt. Im Landkreis Mühldorf wiederum wurden in den letzten zehn Jahren von 2009 bis aktuell 2019 insgesamt fünf Verdachtsfälle von Masern gemeldet, zuletzt im Jahr 2015, wovon sich keiner der Fälle labordiagnostisch bestätigt hat. Quitterer sieht das Problem nicht in der Überzeugung der bewusst Nicht-Geimpften, sondern bei der Motivation zur Zweitimpfung. Dazu solle vermehrt die aktuell erweiterte Gesundheitsuntersuchung genutzt werden. Darüber hinaus hülfe ein entsprechend gestaltetes Bonusprogramm der Krankenkassen sowie ein Aufnahmeverbot von Ungeimpften in Kindertagesstätten.
Demgegenüber besteht Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) auf eine Verpflichtung: „Ich will die Masern ausrotten“, formuliert Spahn griffig und erhebt die Impfpflicht zur Frage des allgemeinen Gesundheitsschutzes. Seine Partei unterstützt ihn dabei. CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer meint zwar, die Frage, ob man seine Kinder impfen lasse, sei sehr persönlich. Masern seien aber so gefährlich, dass eine Nicht-Impfung außer eine Gefährdung der eigenen Kinder auch eine Gefährdung aller anderen Kinder bedeute: „In dieser Abwägung halte ich eine Impfpflicht für richtig.“ Welche Wirkung Bußgelder entfalteten, werde noch im parlamentarischen Verfahren besprochen. Zustimmung kommt zudem vom Berliner Koalitionspartner SPD. Gesundheitsexperte Karl Wilhelm Lauterbach, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, unterstützt Spahn genauso wie die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles. Und die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/DIE GRÜNEN hat beschlossen, eine Masern-Schutzimpfung zur verbindlichen Bedingung für die Aufnahme von Kindern in Kitas machen. Verfassungsrechtliche Bedenken wegen des Eingriffs in das Recht auf körperliche Unversehrtheit hat etwa der Göttinger Staatsrechtler PD Dr. Alexander Thiele keine.
Umsetzbarkeit einer sanktionsbeladenen Impfpflicht
In der Diskussion um eine Impfpflicht zeigt sich etwa die KKH Kaufmännische Krankenkasse offen dafür, denn auch ihre Datenauswertung bestätige die bundesweit steigende Zahl an Masernerkrankungen. „Dass es in Ländern wie Deutschland, in denen die Masern bereits als besiegt galten, zunehmend mehr Erkrankungen gibt, macht die Dringlichkeit einer konsequenten Impfung gegen das Virus deutlich“, erklärt Sven Seißelberg. Der KKH-Apotheker hofft, dass die aktuelle Diskussion wach rüttelt und dazu beiträgt, dass sich mehr Menschen mit ihrem Impfstatus auseinandersetzen.
Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, befürwortet ebenfalls Spahns Pläne, nennt sie einen „wichtigen Schritt zur richtigen Zeit“. Die angekündigten Strafen bei Verstößen sieht Montgomery aber kritisch. Grund: Eine Impfpflicht lasse sich zwar leicht verlangen, doch nur schwer umsetzen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass man Kinder mit der Polizei zum Impfen schleppt“, gibt Montgomery zu Bedenken. Ähnlich argumentieren die Ärztekammern Sachsen und Sachsen-Anhalt.
„Möglichst geringe Eingriffstiefe“
Thomas Fischbach, Präsident des Bundesverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), macht auf ein anderes Problem aufmerksam: Derzeit sei kein Einzelimpfstoff gegen Masern verfügbar. Er sei nur als Drei- oder Vierfachimpfstoff erhältlich – im Verbund mit Impfstoffen gegen Mumps, Röteln und zum Teil auch gegen Windpocken. „Es wäre nicht sinnvoll, im Zuge einer Masern-Impfpflicht wieder zu Einfachimpfstoffen zurückzukehren“, mahnt Fischbach. „Besser wäre es, gleich die Dreifachimpfung gegen Masern, Mumps und Röteln zur Pflicht zu machen.“
In diesem Sinne fordert der Deutsche Ethikrat einen „umfassenden Ansatz“: Vor Einführung einer gesetzlichen Masern-Impfpflicht sei das ganze Spektrum von Akteuren, Adressaten, Instrumenten und Regelungsebenen in ihren Wechselbeziehungen zu betrachten. „Erst auf dieser Grundlage kann geprüft werden, wie das Ziel eines hinreichenden Impfschutzes mit Maßnahmen von möglichst geringer Eingriffstiefe erreicht werden kann.“
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