Ampfing/Burghausen — In der Corona-Krise sind die von der Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose Betroffenen besonders hellhörig, was die Verbreitung des neuartigen Coronavirus’ (SARS-CoV-2), die Impfstoffe und den Lockdown betrifft. Die „Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG), Bundesverband e. V.“ hat in Zusammenarbeit mit dem „Krankheitsbezogenen Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS)“ eine Empfehlung verfasst, was bei der Impfung während einer MS-Therapie zu beachten sei. Die pharmazeutisch-technische Assistentin und MS-Patientin Jeanette Juchems, seit Ende 2019 alleinerziehende Mutter von drei Kindern, schildert exemplarisch ihre Situation.
Multiple Sklerose, kurz: MS, ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des Zentralen Nervensystems (ZNS). Die genaue Ursache der vielfachen, multiplen Entzündungsherde in Gehirn und Rückenmark ist bislang ungeklärt. Die Entzündungen führen zur Zerstörung der Schutzschicht (Myelinscheide) von Nervenfasern sowie zu Verhärtungen und Vernarbungen von Nervengewebe. Dadurch werden Sinnesreize nicht mehr richtig weitergeleitet und verarbeitet. Die Beschwerden und Verlaufsformen sind sehr unterschiedlich, umfassen oft Seh-, Sensibilitäts- und Bewegungsstörungen, die in Schüben auftreten. Infektionen können einerseits schwerwiegende Erkrankungen verursachen, andererseits Schübe auslösen und zur Krankheitsverschlechterung beitragen.
Jeanettes Leben mit Multipler Sklerose
Die Ampfingerin Jeanette Juchems erhielt 2015 die Diagnose Multiple Sklerose. Das erste Symptom war bei der heute 29-Jährigen kurz nach der Geburt des ersten Kindes aufgetreten: ein Gefühl, als wenn Ameisen über Arme und Beine liefen verbunden mit unangenehmer Taubheit. Sie konnte das Neugeborene nicht mehr halten, spürte keine Berührung. Ihre Hoffnung, dass sie zu jenen 20 Prozent der Betroffenen zählen könnte, die lediglich einen Schub durchmachten und danach ohne Einschränkungen weiterlebten, zerschlug sich bei der Geburt des zweiten Kindes 2016. Erneut traten Symptome auf – und nach der Geburt des dritten Kindes 2018 kamen die nächsten Schübe. „Ein Schub hätte mich fast mein Augenlicht gekostet. Fehldiagnostiziert und falsch therapiert“, dokumentiert Jeanette auf der Website betterplace.me. Ihr Hausarzt konnte helfen, therapierte Schmerzen und Müdigkeit.
Mittlerweile hat Jeanette einen Pflegegrad beantragt, bezieht Arbeitslosengeld II (ALG II), ein Kind geht zur Schule, die beiden anderen in den Kindergarten. Ein Schub hat ihre Gehfähigkeit gemindert, die Bewegungsfreiheit des linken Beins eingeschränkt. Mit Rollator kommt sie rund 400 Meter weit. Nur Autofahren ist noch bedingt möglich: Bemerkt sie während der Fahrt Symptome, hält sie an und wartet, bis sie das Bein wieder vollständig bewegen kann oder muss einen anderen Fahrer organisieren. Ihre Ärzte sind mit ÖPNV nicht erreichbar. Jeanette wird zwar zeitweise von ihren Eltern und der Schwester unterstützt, die auch auf mehr Verständnis für MS-Erkrankte hoffen. Jeanettes Traum ist aber, die Ärzte alleine und barrierefrei erreichen zu können, die Kinder selbstständig zur Schule oder zu Freunden zu bringen, Einkaufen zu fahren und gelegentlich einen Ausflug zu unternehmen. Für ein dafür erforderliches Fahrzeug mit Automatikgetriebe sowie Platz für die Kinder, den Rollator und einen Elektrorollstuhl fehlen ihr allerdings die Mittel. Da das Jobcenter trotz ärztlicher Atteste finanziell nur beispringe, wenn das Auto zur Arbeitsaufnahme benötigt würde, hofft sie derzeit auf zweckgebundene Spenden über betterplace.me.
MS-Therapie und Corona-Vakzine
Im derzeitigen „harten Lockdown“ ist COVID-19 für Jeanette als „Hochrisikopatientin“ ein Dauerthema. Neben ihrer Befürchtung, sich mit dem Coronavirus zu infizieren, sieht sie die Massenimpfungen gegen SARS-CoV-2 kritisch: Die AHA-L-Regeln – Abstandhalten, Hygienemaßnahmen, FFP2-Masken und Lüften – hält sie ein. Die Zeit beim Rettungsdienst hat sie sensibilisiert. Da bislang jedoch wenig über die Wirkungen der im Eilverfahren zugelassenen Vakzine bei gesunden Menschen bekannt sei, will sich die pharmazeutisch-technische Assistentin erst mit ihrem Neurologen und mit anderen Betroffenen in der Burghausener MS-Selbsthilfegruppe „Schokomäuse“ austauschen, wie die Impfungen auf Menschen mit Autoimmunerkrankung wirken könnten.
Während DMSG und KKNMS das Risiko der Verabreichung von Totimpfstoffen bei MS-Erkrankten für gering halten, beurteilen sie das Impfen mit Lebendvirus-Vakzinen „kritischer“. Dennoch legen beide in einer Ende Januar veröffentlichten Empfehlung nahe, „sich und andere durch die Impfung zu schützen“. Obschon keine Daten zu Impfantworten unter den verschiedenen Immuntherapien vorlägen, könnten die bisherigen Erfahrungen mit anderen Impfstoffen „mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Corona-Impfstoffe übertragen werden“. Die DMSG verweist hierbei auf „Erfahrungen“ aus Israel mit 500 MS-Patienten, die den mRNA-Impfstoff von BioNTech erhalten haben und bislang keine unerwarteten Nebenwirkungen oder Aktivierung der MS gezeigt hätten. Jeanette will dennoch nicht zu den „Vorreitern“ gehören: „Wenn mein Immunsystem zusammenbricht, sind meine Kinder die Leidtragenden – und dieses Risiko gehe ich auf keinen Fall ein.“
Mehr Information ist online abrufbar unter dmsg-bayern.de und kompetenznetz-multiplesklerose.de.
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