München / Mühldorf am Inn — Die bayerischen Kindertageseinrichtungen und Grundschulen sind nach rund zweimonatiger Schließung und Notbetreuung zum Wechselunterricht zurückgekehrt – trotz unklarer Infektionslage durch die Mutationen des neuartigen Coronavirus’ (SARS-CoV-2). Die Öffnung gilt für Landkreise und kreisfreie Städte, in denen die 7-Tage-Inzidenz unter 100 liegt. In Regionen mit höheren Werten bleibt es beim Distanzunterricht. „Wir haben jetzt Wechselunterricht, wir haben eine Inzidenz-Abhängigkeit, wir haben Maske, wir haben Testkonzepte, also viel mehr an Sicherheitsfragen, das geht fast nicht“, begründet Ministerpräsident Dr. Markus Söder den Lockerungsschritt. In den letzten Wochen mehrten sich aber auch die Stimmen aus Elternschaft, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Pädagogik und Ärzteschaft, die das Kindeswohl anmahnten. Der Landkreis Mühldorf am Inn unterstützt Erziehungsberechtigte zudem mit digitalen Elternabenden und Experten-Chats.
Die Wendemanöver im Lockdown mit eingeschränktem Regelbetrieb, Notbetreuung oder Schließung von Kindertageseinrichtungen und Schulen sind für Eltern und Kinder gleichermaßen belastend. Mitte Dezember 2020 in den Notbetrieb mit Distanzunterricht geschickt, sind zunächst Anfang Februar 2021 die Abiturklassen von Gymnasien, Fachoberschulen (FOS) und Berufsoberschulen (BOS) sowie bestimmte Abschlussklassen beruflicher Schulen unter strengen Hygieneauflagen zum Präsenzunterricht zurückgekehrt. Zu Wochenbeginn folgten alle anderen Abschlussjahrgänge – etwa von Real-, Mittel- und Wirtschaftsschulen – sowie der Förderschulen. Grundschüler sind wieder im Wechselunterricht, soweit in den betreffenden Landkreisen und kreisfreien Städten die 7-Tage-Inzidenz (7-TI) unter 100 liegt. Demgegenüber bleiben Einrichtungen in Regionen mit einer 7-TI über 100 geschlossen.
In Kindertageseinrichtungen und -pflegestellen erfolgt die Betreuung seit dem 22. Februar im eingeschränkten Regelbetrieb mit festen Gruppen. Voraussetzung: Rahmenhygieneplan mit Schutz- und Hygienevorgaben sowie Test- und Maskenkonzept. Für die Jahrgangsstufen 1 bis 4 der Grundschulen sowie für Abschlussklassen ist bei einer 7-TI unter 100 Präsenzunterricht oder Wechselunterricht zugelassen. Voraussetzung: Ein Mindestabstand von 1,5 Metern kann durchgehend und zuverlässig eingehalten werden. Für Lehrkräfte gilt über die allgemeine Maskenpflicht hinaus die Pflicht zum Tragen einer medizinischen Gesichtsmaske im Rahmen der arbeitsschutzrechtlichen Bestimmungen. Die übrigen Jahrgangsstufen und Schularten sowie Landkreise und kreisfreien Städte mit einer 7-TI über 100 bleiben beim Distanzunterricht. Fahrschulen einschließlich Fahrschulprüfungen sind unter Schutzauflagen wieder zugelassen. Voraussetzungen: Schutz- und Hygienekonzept, für das Lehrpersonal die Pflicht zum Tragen einer medizinischen Maske im Rahmen der arbeitsschutzrechtlichen Bestimmungen und für Fahrschüler FFP2-Maskenpflicht. Damit sind theoretisch rund 40 Prozent der rund 1,7 Millionen Schüler nicht mehr im Distanzunterricht. Wie lange die Einrichtungen geöffnet bleiben, ist jedoch wegen des fragilen Infektionsgeschehens unklar.
Belastungen für Eltern und Kinder
Zuletzt hatte der Bayerische Elternverband e. V. (BEV) Ende Januar in einem offenen Brief an Ministerpräsident Dr. Markus Söder (CSU) und den Staatsminister für Unterricht und Kultus im Kabinett Söder II, Prof. Dr. Michael Piazolo (Freie Wähler), für ein planmäßiges Öffnen der Kitas und Grundschulen plädiert. Der BEV argumentierte, Kinder stünden in der Corona-Krise „unter Dauerstress“. Lange Schließungen könnten ihre Entwicklung hemmen, denn ohne Struktur und Sicherheit sinke ihre Motivation. Gerade die unteren Jahrgangsstufen könnten noch nicht selbstständig lernen, lesen oder technische Geräte bedienen. Da unzureichend emotional gefestigt, seien sie durch die häufigen Beziehungsabbrüche beeinträchtigt. Und Eltern würden durch die „enorme Doppelbelastung“ von Wechsel- und Distanzuntericht „regelrecht verschlissen“. Sie könnten weder den Bedürfnissen der Kinder, noch ihren eigenen oder denen des Arbeitgebers gerecht werden, was in eine emotionale Krise, gar zum Burnout führe.
Bereits während des „Lockdown light“ Ende November 2020 hat die KKH Kaufmännische Krankenkasse auf eine mögliche Folge des Homeschooling hingewiesen: Sprachentwicklungsstörungen. Dazu zählen Wortschatzdefizite sowie Schwierigkeiten bei der Artikulation bestimmter Laute oder beim Bilden und Verstehen von Sätzen. Falls beim Homeschooling an die Stelle des direkten kommunikativen Austausches mit Lehrern und Mitschülern die selbstständige Heimarbeit trete, könne dies der allgemeinen Sprachkompetenz schaden, so die KKH. Dabei setze selbst der tägliche Umgang mit digitalen Medien und dem Internet in Schule, Beruf und Freizeit voraus, Sprache als Kommunikationsmittel uneingeschränkt einsetzen zu können.
„Gerade die Jüngsten unserer Gesellschaft leiden unter den Lockdown-Maßnahmen“, warnte noch letztes Wochenende Brigitte Meyer, Vizepräsidentin des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK). „Schon jetzt sind die Schäden unermesslich“, erklärte die FDP-Politikerin: „Nur weil diese Stimmen in keinen Expertengremien vertreten sind, darf nicht über sie hinweg entschieden werden. Kinder und Familien dürfen mit der Aufarbeitung nicht alleine gelassen werden, es braucht entsprechende Strategien und Unterstützung aus der Politik.“ Der im BRK engagierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Christoph Treubel unterstrich, im Lockdown leide die Eltern-Kind-Beziehung. Obgleich die Zeit mit den Eltern „Quality Time“ bedeute, seien die Eltern nun sowohl Erzieher als auch Lehrer, arbeiteten überdies zuhause. Hermine Brenauer, Teamleiterin der Kindertageseinrichtungen im BRK, ergänzte, das „Stresslevel“ sei erhöht. „Wir dürfen nicht vergessen: Diese Kinder sind die nächste Gesellschaft, sie wachsen mit Corona auf. Wir stehen in der Verantwortung ihnen mitzugeben, wie man mit Krisen umgeht.“ Dennoch hält Gesundheitsökonom Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD) die Schulöffnungen insgesamt für verfrüht. Aus seiner Sicht kommen sie erst infrage, wenn die Testung der Kinder mit Antigen-Selbsttests gewährleistet ist. Allerdings sind diese noch nicht zugelassen.
Digitale Elternabende mit Experten-Chats
Im Landkreis Mühldorf am Inn wurde der erste mit dem neuartigen Coronavirus (SARS-CoV-2) Infizierte am 17. März 2020 registriert. Ein knappes Jahr später zählt das Landratsamt, Stand 24. Februar 2021, 169 aktive Fälle (+18 zum Vortag). Die 7-TI liegt bei 82,85. Das Robert Koch-Institut (RKI) protokolliert eine 7-TI von 67,3. Das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) dokumentiert für den Landkreis 122 an COVID-19 Verstorbene (Stand: 22. Februar 2021).
Eltern bietet der Landkreis Mühldorf am Inn seit 3. Februar eine digitale Veranstaltungsreihe mit Experten-Chat an, um die mit den Lockdowns verbundenen Herausforderungen wie Wechselunterricht, allgemeine Kontakt- und Ausgangsbeschränkung, Homeschooling, Cybermobbing sowie Safer Surfing besprechen zu können. Die Elternabende zu den Themen digitale Bildung, Distanzunterricht und Krisenmanagement finden bis zum 31. März mittwochs um 19.30 Uhr auf der landkreiseigenen Videokonferenzplattform BigBlueButton statt. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Die Teilnahme erfolgt browserbasiert mittels Computer, Laptop, Tablet oder Smartphone. Für den Chat sind Headset und Mikrofon empfehlenswert. Das Landratsamt rät zu einer stabilen Internetverbindung. Bei hoher örtlicher Netzauslastung und Auslastungsspitzen der Online-Dienste können sonst Verzögerungen und ruckelnde Bildsequenzen auftreten.
Organisiert werden die digitalen Informations- und Diskussionsrunden von der Stabsstelle „Lernen vor Ort“ und der medienpädagogisch-informationstechnischen Beraterin Bettina Vogl. Für Kirsten Prange vom Amt für Jugend und Familie ist die Elternbildungsreihe ein wichtiges Instrument, um auch während der Corona-Krise mit den Eltern im Austausch zu bleiben. Laut Landratsamt seien die Rückmeldungen sehr positiv. „Das digitale Format, die interessanten Themen und der einfache Zugang haben mich sehr angesprochen“, resümierte eine Teilnehmerin, Mutter eines 11-jährigen Sohnes. Sie war per Rundmail der Schule über das Format informiert worden. Mehr Information ist online abrufbar unter www.familienportal-landkreismuehldorf.de.
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