Berlin / München — Weg frei für den „Lockdown für Ungeimpfte“ im 21. Monat der Corona-Krise? Dem Vorbild Österreichs folgend sollen die behördlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung des neuartigen Coronavirus’ (SARS-CoV-2) weiter verschärft werden. Nach den Worten von Bayerns Ministerpräsident Dr. Markus Söder drohen dem bayerischen Gesundheitswesen sonst mit der „vierten Welle“ Kollaps und Triage. Der Freistaat hat bereits den Katastrophenfall ausgerufen, flächendeckend gelten Hygiene- und Abstandsregeln mit Maskenpflicht, die 3G-Regel am Arbeitsplatz, bald auch in Bussen, Bahnen und Taxen, die 3G plus-Regel sowie die 2G-Regel in Gastronomie, Hotels, Kultur und Sport. Nun werden Kontakt- und Reisebeschränkungen für Ungeimpfte debattiert: Falls „kontakteinschränkende Maßnahmen“ rechtlich nicht haltbar seien, bleibe nur der „Lockdown für Ungeimpfte“, erklärt etwa Prof. Dr. Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie an der Charité. Laut Umfragen befürwortet eine Mehrheit der Bevölkerung solche Einschränkungen für Ungeimpfte. Hilfsorganisationen wie das Bayerische Rote Kreuz, der Malteser Hilfsdienst e. V., der Johanniter-Unfall-Hilfe e. V. und der Arbeiter-Samariter-Bund Bayern e. V. appellieren nun an Ungeimpfte, sich aus „Solidarität“ schnellstmöglich piksen zu lassen. Denn die Intensivstationen und Notaufnahmen seien überwiegend durch Ungeimpfte belegt.
Unter dem Druck steigender Zahlen an intensivpflichtigen COVID-19-Fällen bringen die Bundesländer immer mehr Regelverschärfungen auf den Weg. In verschiedener Ausprägung gelten derzeit neben der AHA+L-Regel (Abstandhalten, Hygienemaßnahmen, Alltagsmasken, Lüften; oft mit Kontaktnachverfolgung via Corona-Warn-App, kurz: CWA) weitere Restriktionen: die 3G-Regel (Zugang nur für Geimpfte, Genesene und Getestete), die 3G plus-Regel (Zugang nur für Geimpfte, Genesene und PCR-Getestete), die 2G-Regel (Zugang nur für Geimpfte und Genesene) und die 2G plus-Regel (Zugang nur für jeweils getestete Geimpfte und Genesene). Obgleich Geimpfte und Genesene laut dem geschäftsführenden Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) „Teil der Infektionsentwicklung in Deutschland“ sind und das Robert Koch-Institut auch „COVID-19-Fälle mit wahrscheinlichem Impfdurchbruch, die verstorben sind“ vermerkt, werden Ungeimpfte vermehrt als „Treiber der Pandemie“ wahrgenommen, etwa vom Gesundheitsökonomen Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD).
Dabei hatte der Leiter der bayerischen Staatskanzlei, Florian Herrmann (CSU), noch Ende Oktober für den Freistaat festgestellt, das „Ausbruchsgeschehen“ sei diffus: „Es gibt jetzt nicht die eine Erklärung“. Eher sei eine „Vielzahl von Einzelaspekten und Parametern“ verantwortlich, zu denen neben regional niedrigen Impfquoten auch die Grenznähe zu Österreich oder Tschechien zählten. Dies bestätigten die oberbayerischen Landkreise mit den höchsten Inzidenzen: Ursächlich seien in Miesbach die Lockerungen, in Straubing-Bogen und im Berchtesgadener Land die Infektionsgeschehen in Kitas und Schulen, in Berchtesgaden zudem Reiserückkehrer aus den Balkanstaaten, in Mühldorf a.Inn eine Mischung aus allem. So bekundete Herrmann zwar Anfang November, die Staatsregierung strebe „keinen Lockdown für Ungeimpfte als theoretisch denkbare Maßnahme“ an, denn Ausgangsbeschränkungen seien kaum zu überwachen. Doch diese Sicht hat sich geändert. Wegen des unwägbaren Infektionsgeschehens wurden inzwischen Christkindlmärkte abgesagt, Behörden für den Publikumsverkehr geschlossen, Homeoffice soll verpflichtend werden. Selbst Ministerpräsident Dr. Markus Söder (CSU) spricht nun vom „Lockdown für Ungeimpfte“: „Anders kann es gar nicht sein.“
Montgomery: „Tyrannei der Ungeimpften“
„Impfzauderer“, „Impfverweigerer“ und „Impfgegner“ gelten bereits als „Schwurbler“, „Covidioten“, „gefährliche Sozialschädlinge“. Vorläufiger Höhepunkt ist die Empörung des Vorstandsvorsitzenden des Weltärztebundes (WMA) und Ehrenpräsidenten der Bundesärztekammer (BÄK), Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery, über eine „Tyrannei der Ungeimpften“. Doch welchen Preis kann Impfskepsis gegenüber den aktuellen COVID-19-Vakzinen haben? Ausschluss vom Diskurs, von gesellschaftlicher Teilhabe, von der Lohnfortzahlung im Quarantänefall, vom Berufsleben? Der Jurist und Journalist Prof. Dr. Heribert Prantl kritisiert, der „Pandemiestaat neigt zur Übergriffigkeit“. Prantl befürchtet eine Gewöhnung daran, „dass heftige Einschränkungen der Grund- und Bürgerrechte zu den Bewältigungsstrategien einer Krise gehören – und dass das Unverhältnismäßige in Krisen als verhältnismäßig gilt“.
Fakt ist: Eine Impfpflicht ist ein schwerer Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, welche zu schützen der Staat rechtlich verpflichtet ist (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). Doch während eine allgemeine Impfpflicht gegen COVID-19 beispielsweise von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) ausgeschlossen worden ist, empfiehlt unter anderem der Deutsche Ethikrat zumindest die Prüfung einer Impfpflicht für Mitarbeitende in besonderer beruflicher Verantwortung. Dem haben sich diverse Institutionen und Interessenvertretungen angeschlossen. So dringt etwa der Deutsche Städtetag auf eine schnelle gesetzliche Impfpflicht für Beschäftigte an Kitas, Schulen, im Gesundheits- und Pflegebereich. „Impfen ist und bleibt der Königsweg aus der Pandemie“, erklären auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). Das „Trendbarometer“ von RTL und ntv, für welches das Meinungsforschungsinstitut Forsa rund 1.000 Menschen vom 9. bis 15. November befragt hat, registriert allerdings eine Spaltung: 53 Prozent sind für eine generelle Impfpflicht, 45 Prozent für die Freiwilligkeit der Impfung.
Impfen als „Weg aus der Pandemie“
Klar positioniert sind hingegen die bayerischen Hilfsorganisationen: „Das Personal ist physisch wie psychisch am Limit, zutiefst frustriert und auch verärgert, dass der fast zweijährige und kräftezehrende Einsatz mangels Impfbereitschaft immer noch nicht beendet werden kann“, beklagt der Präsident des Bayerischen Roten Kreuzes, Theo Zellner. „Mir fehlt die Solidarität der Ungeimpften gegenüber unseren Rettungs- und Pflegekräften.“ Die Impf-Entscheidung sei längst keine Privatsache mehr, vielmehr „ein notwendiger Akt zur Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems“, sagt Zellner. So appelliert Stephanie Freifrau von Freyberg, bayerische Landesbeauftragte des Malteser Hilfsdienstes: „Angesichts der dramatischen Situation ist jetzt das Momentum für jede und jeden Unentschlossenen, den Weg zur Impfung zu beschreiten.“
Jürgen Wanat, Mitglied im Landesvorstand des Johanniter-Unfall-Hilfe, ergänzt: „Nutzen Sie auch die Möglichkeit der Auffrischungsimpfung. Denn Nachlässigkeit können wir uns jetzt nicht erlauben.“ Und Norbert Tessmer, stellvertretender Landesvorsitzender des Arbeiter-Samariter-Bundes Bayern, betont: „Es liegt weiterhin an jedem und jeder, nun verantwortungsvoll zu handeln, sich selbst und der Allgemeinheit gegenüber.“
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