Berlin/München — „Maximal rücksichtslos“ nennt der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung die Kinderimpfung gegen das neuartige Coronavirus (SARS-CoV-2): Dr. Andreas Gassen schätzt, für gesunde Kinder und Jugendliche ist das Impfrisiko höher als die Gefahr einer Corona-Infektion. Er reiht sich damit in eine Gruppe von Medizinern ein, die eine Verimpfung bedingt zugelassener Vakzine – wenn überhaupt – ausschließlich bei Kindern ab zwölf Jahren mit speziellen Vorerkrankungen unterstützt, wie dies die Ständige Impfkommission am Robert Koch-Institut empfiehlt. Angekurbelt hat die Debatte um Kinderimpfungen der 124. Deutsche Ärztetag. Die Hauptversammlung der Bundesärztekammer fordert, das Recht auf Bildung mit Kita- und Schulbesuch ab Winter 2021/2022 mit einer rechtzeitigen COVID-19-Impfung insbesondere jüngerer Kinder zu sichern.
Das Robert Koch-Institut (RKI) stuft die Gefährdung durch SARS-CoV-2 für die Gesundheit der Bevölkerung zwar als hoch ein, registriert aber einen kontinuierlichen Rückgang der maßgebenden 7-Tage-Inzidenz (7-TI) in allen Altersgruppen. Bundesweit liegt die 7-TI, Stand: 15. Juni, bei 15 Fällen pro 100.000 Einwohner. In drei der 412 Kreise übersteigt sie noch den Wert 50 (Stadtkreis Schweinfurt, Landkreis Lindau und Lkr Tuttlingen), in zehn liegt sie bereits bei Null (Skr Flensburg, Lkr Helmstedt, Lkr Lüchow-Dannenberg, Lkr Ammerland, Lkr Friesland, Lkr Wesermarsch, Skr Neustadt a.d.Weinstraße, Skr Pirmasens, Lkr Donnersbergkreis und Skr Bayreuth). Die Reproduktionszahl als Anzahl der Personen, die im Durchschnitt von einem Fall angesteckt werden, beträgt 0,72 (7-Tage-R-Wert). 1.210 COVID-19-Fälle sind in intensivmedizinischer Behandlung. Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) führt diese Entwicklung auf die Lockdowns und Corona-Maßnahmen zurück: „Die derzeit deutlich sinkenden Infektionsraten machen Mut und zeigen, wie sehr unsere Maßnahmen und Verhaltensregeln wirken.“
Mittlerweile genauso bedeutsam wie die Inzidenz ist die Zahl der gegen COVID-19 Geimpften, konkret: der asymptomatischen Personen, die im Besitz eines auf sie ausgestellten Impfnachweises sind. Der Impfnachweis soll ihre vollständige Schutzimpfung gegen SARS-CoV-2 belegen. Diesen Personen sowie genesenen und getesteten Personen (3G) gewährt die COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung (SchAusnahmV) vom 8. Mai 2021 Erleichterungen und Ausnahmen von den geltenden Geboten und Verboten nach § 28b des Infektionsschutzgesetzes (IfSG).
Dem RKI zufolge sind seit dem Start der Impf-Kampagne am 26. Dezember 2020 über 61,4 Millionen Impfdosen verabreicht worden. Dadurch hätten 48,7 Prozent der Bevölkerung eine Erstimpfung bekommen, 26,8 Prozent sollen vollständig geimpft sein. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) erwartet, dass bis Mitte Juli „an die 90 Prozent“ der impfwilligen Erwachsenen eine Impfung erhalten. Prof. Dr. Christian Karagiannidis, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN), mutmaßt schon, künftig werde COVID-19 eine Erkrankung des Klinikalltags werden und den Schrecken einer in Wellen verlaufenden Pandemie verlieren. Doch für den weitgehenden Verzicht auf Maßnahmen ist „Herdenimmunität“ erforderlich, erklärt Prof. Dr. Lothar Wieler, Präsident des RKI. Ziel seien mindestens 80 Prozent Zweifachimpfungen, zumindest in der „impffähigen erwachsenen Bevölkerung“, sekundiert Prof. Dr. Christian Drosten, Direktor vom Institut für Virologie an der Charité.
Das RKI erklärt zudem: „Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person trotz vollständiger Impfung PCR-positiv wird, ist bereits niedrig, aber nicht Null“. Es müsse davon ausgegangen werden, „dass einige Menschen nach Kontakt mit SARS-CoV-2 trotz Impfung (asymptomatisch) PCR-positiv werden und dabei auch infektiöse Viren ausscheiden“. Dieses Risiko müsse zusätzlich reduziert werden durch das Einhalten der Infektionsschutzmaßnahmen – Abstandhalten, Hygienemaßnahmen, Alltagsmasken, Lüften.
Ziel: Infektionsrisiko minimieren
In dieser Gemengelage hat der Bundestag am 11. Juni mit der Mehrheit der Großen Koalition die umstrittene „Bundes-Notbremse“ mit ihren Grundrechtseinschränkungen und deutschlandweit einheitlichen Restriktionen bei bestimmten Inzidenzen bis zum 30. September verlängert. Die erstmals am 25. März 2020 vom Bundestag festgestellte „epidemische Notlage von nationaler Tragweite“ ermöglicht es dem Bundesministerium für Gesundheit und anderen Regierungsstellen, weitere drei Monate ohne Zustimmung des Bundesrates Verordnungen zu erlassen. Begründet wird dies mit unberechenbaren Mutationen des Coronavirus. Das Infektionsrisiko sei weiterhin zu minimieren, Impfangebote sollten wahrgenommen werden.
Zur Eindämmung der Verbreitung von SARS-CoV-2 und für den Individualschutz empfiehlt die Ständige Impfkommission (STIKO) allgemein die Impfung mit einem der aktuell vier bedingt zugelassenen Vakzine: Verabreicht werden soll entweder einer der beiden mRNA-Impfstoffe (Comirnaty von BioNTech/Pfizer, COVID-19-Vaccine von Moderna) oder einer der vektorbasierten Impfstoffe (Vaxzevria von AstraZeneca, COVID-19 Vaccine Janssen von Janssen-Cilag International). Die STIKO differenziert dabei zwischen Altersgruppen und merkt an, ihre Beurteilung beruhe auf derzeitigem Wissen. Hintergrund: Hat die European Medicines Agency (EMA), die Europäische Arzneimittel-Agentur, eine „Conditional Marketing Authorisation (CMA)“, die bedingte Marktzulassung, erteilt, müssen die Hersteller innerhalb vorher festgelegter Fristen weitere Daten aus laufenden oder neuen Studien vorlegen, dass der Nutzen der sofortigen Verfügbarkeit des Vakzins oder Medikaments die Risiken für die Patienten überwiegt. Bei den aktuellen Substanzen werden klinische Studien bis mindestens 2025 durchgeführt.
Gesellschaftliche Teilhabe nur bei Impfung?
Anfang Juni äußerten in einer Deutschlandtrend-Umfrage von infratest dimap im Auftrag des ARD-Morgenmagazins 43 Prozent der Befragten den Wunsch, dass Kinder ab zwölf Jahren möglichst schnell eine Impfung erhalten sollten, 48 Prozent stimmten dem nicht zu. Angekurbelt worden ist die Debatte um die Impfung Minderjähriger Anfang Mai durch die Aufforderung des Deutschen Ärztetages an die Bundesregierung, „unverzüglich eine COVID-19-Impfstrategie für Kinder und Jugendliche zu entwickeln und vor Einsetzen des Winters 2021/2022 umzusetzen“. Die Aufforderung bezweckt, schneller Herdenimmunität gegen SARS-CoV-2 zu erreichen und weitere gravierende negative Folgen für die kindliche Psyche durch einen erneuten Lockdown zu vermeiden. In der Begründung notieren die Ärzte allerdings auch: „Die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe erlangen Familien mit Kindern nur mit geimpften Kindern zurück.“
Während schon eine explizite Impfpflicht für Erwachsene gesellschaftlich schwer umsetzbar scheint, stößt gerade ein impliziter Impfzwang für Kinder und Jugendliche auf Widerstand, insbesondere in der Elternschaft, aber auch unter Kinder- und Jugendärzten. Online-Videos etwa vom kritischen „Ärzte für individuelle Impfentscheidung e. V.“, welcher Impfungen durchaus als Bestandteil ärztlicher Vorsorge ansieht, bündeln unter dem Hashtag #nichtmeinaerztetag die Gegenargumente. Auch die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) sowie die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) erklären, im Vergleich zwischen der Impfung von Erwachsenen einerseits und von Kindern andererseits sei der Nutzen für Minderjährige bezogen auf Infektionsschwere, Komplikations- und Sterberate als gering einzuschätzen. Kinder und Jugendliche litten weniger unter SARS-CoV-2 als unter den Corona-Maßnahmen. Selbst der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. Andreas Gassen, wendet sich gegen Kinderimpfung: Zu behaupten, für die Herdenimmunität werde die Impfung von Kindern benötigt, ist laut dem Facharzt für Orthopädie, Unfallchirurgie und Rheumatologie „schräg“.
In einer ähnlichen Debatte in den Niederlanden appelliert das Ärztekollektiv „Artsen Covid Collectief (ACC)“ unter Verweis auf den medizinethischen Grundsatz „Primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare“ – übersetzt: „Erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen“ –, von der Impfung gesunder Kinder abzusehen. „Wenn Kinder zum ersten Mal in der Geschichte ‚für jemand anderen’ geimpft werden, sollte die Sicherheit unwiderlegbar nachgewiesen sein“, betont das ACC. Und in Österreich mahnt die Allgemeinmedizinerin Dr. Maria Hubmer-Mogg, Initiatorin der kritischen Kampagne „Wir zeigen unser Gesicht“: „Als Mutter sage ich: Stellen Sie sich vor, Ihr Kind erleidet einen schweren Impfschaden. Diese Impfungen sind experimentelle Medikamente, die sich immer noch in der Phase III einer Studie befinden.“
STIKO-Vorsitzender Prof. Dr. Thomas Mertens gibt wiederum zu bedenken: „Den Kindern bietet man ja kein Lakritzbonbon an, das ist ein medizinischer Eingriff, und der muss eben entsprechend indiziert sein.“ Die Schulpolitik mit der Impfdebatte zu verknüpfen, sei „nicht besonders sinnvoll“, sagt der Virologe: „Die STIKO – und ich glaube auch viele andere vernünftige Leute – halten diese sprachliche Verbindung von Impfung als Voraussetzung für das normale Leben der Kinder für einen Irrweg.“
Keine generelle Impfempfehlung für Gesunde
Aktuell können Kinder und Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren, bei denen Vorerkrankungen vorliegen, zwar wegen eines anzunehmenden erhöhten Risikos für einen schweren COVID-19-Verlauf mit dem mRNA-Impfstoff Comirnaty (BioNTech/Pfizer) geimpft werden. Für gesunde Kinder und Jugendliche gibt es von der STIKO aber keine generelle Impfempfehlung, obschon eine Impfung nach ärztlicher Aufklärung und bei individuellem Wunsch und Risikoakzeptanz möglich ist.
Besondere Note: Laut einer Studie vom Technion – Israel Institute of Technology in Haifa werden mit zunehmender Zahl geimpfter Erwachsener immer weniger Kinder und Jugendliche unter 16 Jahre positiv auf SARS-CoV-2 getestet. Daumenregel: Im Mittel halbiert sich der Anteil positiv Getesteter in der noch ungeimpften Bevölkerung mit jedem Anstieg um 20 Prozentpunkte beim Anteil Geimpfter. Einschränkung: Weder wurde die Möglichkeit einer natürlich erworbenen Immunität gegen SARS-CoV-2 durch eine überstandene Infektion noch der Einfluss der zeitweisen Lockdowns berücksichtigt.
Letztlich geht es bei der Kinderimpfung laut Mertens „um eine Abwägung von Nutzen und möglichem Risiko“. Die Schutzwirkung für 12- bis 17-Jährige sei zwar unbestritten. Doch bei einer relativ kleinen Gruppe von rund 1.100 Kindern und Jugendlichen in einer Zulassungsstudie und einem Beobachtungszeitraum von nur zwei Monaten seien mögliche schwere Nebenwirkungen nicht hinreichend auszuschließen. Dabei sei das Risiko für 12- bis 17-Jährige, schwer an COVID-19 zu erkranken, sehr gering: Die insgesamt zwei Verstorbenen in dieser Altersgruppe in Deutschland hatten schwerste Vorerkrankungen.
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