München / Berlin / Mühldorf a.Inn — Die Corona-Maßnahmen sollen in mehreren Bundesländern trotz hoher 7-Tages-Inzidenz gelockert werden. Vor allem soll die 2G-Regel im Handel entfallen. In Bayern soll aber auch der Vollzug der einrichtungsbezogenen Impfpflicht ab 15. März bis auf weiteres ausgesetzt werden. Die Maßnahme ist nach den Worten von Ministerpräsident Dr. Markus Söder „kein wirksames Mittel mehr, um die jetzige Omikron-Welle zu begleiten oder zu dämpfen oder zu stoppen“. Die Behörden bräuchten mehr Zeit, „um das Ganze vernünftig zu gestalten“. Die Abwanderung von Pflegekräften könnte obendrein „zu einer Überlastung und Schwächung des Gesundheitssystems führen“. Zuletzt hatten sowohl der Bayerische Landkreistag als auch bayerische Kommunalpolitiker auf den Vollzugsaufwand hingewiesen. Ihre Lösung: zügig eine allgemeine Impfpflicht einführen. Kritik an Söders Vorgehen kommt von SPD, Bündnis 90/DIE GRÜNEN und AfD.
Fünf Wochen vor der bundesweiten Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht setzt Bayerns Ministerpräsident Dr. Markus Söder (CSU) den Vollzug im Freistaat aus und fordert „großzügigste Übergangsregelungen“. Zuvor hatten Kommunalpolitiker wie Christian Bernreiter (CSU), Präsident des Bayerischen Landkreistags und Landrat des Landkreises Deggendorf, verdeutlicht, die Behörden arbeiteten seit Monaten am Limit: „Ohne Vorgaben des Bundes zur Auslegung des Gesetzes werden die Gesundheitsämter den Vollzug nicht leisten können“, monierte Bernreiter. Die Aussage des Bundesgesundheitsministeriums, Pflegekräfte könnten weiterarbeiten, bis das jeweilige Gesundheitsamt entscheide, verlagere die Verantwortung komplett auf die Ämter. So sparte Bernreiter nicht mit Kritik an Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD): „Bundesgesundheitsminister Lauterbach macht sich hier einen schlanken Fuß“, tadelte er den Gesundheitsökonomen: „Zusätzliches qualifiziertes Personal für die notwendigen Einzelfallentscheidungen ist nicht vorhanden.“
Ausgangspunkt der Debatte über die verkürzt „Teilimpfpflicht“ genannte „einrichtungsbezogene Impfpflicht“ ist der am 12. Dezember 2021 in Kraft getretene „§ 20a Immunitätsnachweis gegen COVID-19“: eine Ergänzung des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG). Diese Ergänzung beinhaltet die Verpflichtung für Beschäftigte im Gesundheits- und Pflegebereich, bis zum 15. März entweder einen Impf- oder Genesenennachweis zu erbringen oder ein ärztliches Zeugnis vorzulegen, wonach sie nicht gegen COVID-19 geimpft werden können. Wer keinen Nachweis vorlegt, darf in den jeweiligen Einrichtungen oder Unternehmen weder tätig sein noch beschäftigt werden. Die Gesundheitsämter können Betretungs- und Tätigkeitsverbote aussprechen. „Je nach Anzahl von Einrichtungen und der jeweiligen Impfquote unter den Mitarbeitern in einem Landkreis sprechen wir hier von Fällen im dreistelligen Bereich, bei denen sich das Verwaltungsverfahren über Wochen hinziehen kann“, taxierte Bernreiter. Daneben hatte die Bundesagentur für Arbeit (BA) in Nürnberg gemeldet, dass sich aus dem Gesundheits- und Sozialsektor im Dezember und Januar rund 25.000 mehr Menschen arbeitssuchend gemeldet haben als üblich: Menschen, die eine drohende Arbeitslosigkeit bei der BA anzeigen, aber noch im Job sind.
„Impflücke“ soll geschlossen werden
Der Bayerische Landkreistag befürwortet durchaus die einrichtungsbezogene Impfpflicht zum Schutz vulnerabler Gruppen. „Wir haben das aber immer nur als Vorstufe zu einer zeitnah kommenden allgemeinen Impfpflicht gesehen“, stellte dessen Präsident heraus: „Wenn die allgemeine Impfpflicht aus welchen Gründen auch immer vom Bund jetzt nicht auf den Weg gebracht werden kann, muss das Inkrafttreten der einrichtungsbezogenen Impfpflicht in jedem Fall ausgesetzt werden, zumindest bis vom Bund praktikable und unbürokratische Vollzugshinweise vorgelegt werden. Ansonsten verliert die Politik an Glaubwürdigkeit“, erläuterte Bernreiter.
Diese Kritik findet Widerhall. Maximilian Heimerl, Landrat in Mühldorf a.Inn, meint etwa, Bernreiters Aussagen „treffen voll ins Schwarze“: „Wenn der Bund die einrichtungsbezogene Impfpflicht einführt, muss er den Gesundheitsämtern für den Vollzug auch klare Handlungsanweisungen an die Hand geben. Es kann nicht sein, dass die Gesundheitsämter nach zwei Jahren Pandemie-Bekämpfung nun auch noch mit komplexen und zahlreichen Einzelfallprüfungen belastet werden sollen.“ Heimerl hält die Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht ohnehin für den falschen Schritt: „Die Beschränkung der Impfpflicht auf bestimmte Berufsgruppen wird uns beim Schließen der Impflücke nicht voranbringen. Die schnelle Einführung einer allgemeinen Impfpflicht wäre hier gerechter und effektiver.“
Rückenwind und Gegenwind
Söder erhält sowohl Rückenwind als auch Gegenwind. So betont der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz: „Wir müssen noch einmal neu darüber nachdenken, wie wir mit diesem Thema Impfpflicht umgehen.“ Die Bundesregierung habe die arbeits- und sozialrechtlichen Folgen für die Beschäftigten und die Folgen für die Betriebe nicht bedacht: „Die Regierung lässt die Einrichtungen und lässt die Beschäftigten mit den Folgen dieser Impfpflicht völlig allein“, beanstandet Merz. Der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) warnt sogar vor „absurden Situationen“, sollten die Unklarheiten bei der Teilimpfpflicht nicht beseitigt werden. In manchen Bundesländern würde Pflegekräften schon angeboten, auch ungeimpft zu arbeiten und Bußgelder bezahlt zu bekommen. Dies führe dazu, dass sie von einem Land ins andere wechselten: „Das ist ein absoluter Verschiebebahnhof.“
Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Dr. Gerald Gaß, verweist allerdings darauf, dass selbst beim Aussetzen des Vollzuges Einrichtungen und Unternehmen verpflichtet blieben, die Ungeimpften bis zum 15. März den Gesundheitsämtern zu melden.
Streit um „Signale“
Widerrede erfährt Söder insbesondere von SPD, Bündnis 90/DIE GRÜNEN und AfD. So mahnt Lauterbach, die Bayerische Staatsregierung sollte das Bundesgesetz ernst nehmen: „Laxe Vollzugsregeln der einrichtungsbezogenen Impfpflicht können nicht nur das Leben der älteren Menschen mit schwachem Immunsystem gefährden“, sondern auch die Glaubwürdigkeit der Politik.
Die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Heike Baehrens, sekundiert mit Verweis auf den Schutz vulnerabler Gruppen: „Wenn die CSU die Impfpflicht aussetzt, entzieht sie sich damit ihrer Verantwortung, diesen Schutz zu gewährleisten. Das sendet ein fatales Signal“, erklärt Baehrens. „Statt jetzt abzubremsen, muss vielmehr von Ländern und Arbeitgebern alles getan werden, um das Personal im Gesundheits- und Pflegebereich vom Impfen zu überzeugen.“ So sollte unter anderem das Vakzin Nuvaxovid des Herstellers Novavax beworben werden, denn bei diesem bestehe die Hoffnung, dass Impfskeptiker weniger Vorbehalte haben als bei den Substanzen von BioNTech/Pfizer und Moderna. Und die Vorsitzende von Bündnis 90/DIE GRÜNEN, Ricarda Lang, betont, ihre Partei halte an der einrichtungsbezogenen Impfpflicht fest. Diese solle „zügig und pünktlich“ umgesetzt werden.
Dagegen plädiert die AfD weiter „für eine freie Impfentscheidung“. Roland Magerl, pflegepolitischer Sprecher der AfD-Fraktion im Bayerischen Landtag, begrüßt zwar, dass Söder die einrichtungsbezogene Impfpflicht zunächst aussetzen wolle. „Doch schwebt dieses Damoklesschwert noch immer über unseren Köpfen. Solange der Corona-Impfpflicht nicht insgesamt eine Absage erteilt wird, müssen zahlreiche Menschen um ihre Existenz und auch um ihre gesundheitliche Versorgung fürchten.“
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