Rott a.Inn / Rosenheim — Die Auseinandersetzung um die vom Landratsamt Rosenheim im Rotter Gewerbegebiet „Am Eckfeld“ für 506 Asylbegehrende geplante Ankunftseinrichtung wird wohl vor Gericht ausgetragen. Der Gemeinderat von Rott a.Inn hat sowohl das Vorhaben im Gewerbegebiet einstimmig abgelehnt als auch einen „Kompromiss“ für ein Alternativgrundstück mit dann maximal 250 Personen mehrheitlich verworfen. Nach umfassender Prüfung haben sich laut 1. Bürgermeister Daniel Wendrock die Befürchtungen „vollumfänglich bestätigt“: Die avisierte Gewerbehalle sei als Unterkunft ungeeignet, Wasserver- und Abwasserentsorgung hochproblematisch, die Schadstoffbelastung unklar, die Entwicklung des Baugebietes „Meilinger Feld“ werde auf Jahre gehemmt, eine dringende Entschuldung der Gemeinde auf unbestimmte Zeit verschoben. Landrat Otto Lederer sieht aufgrund der Ablehnung seiner Alternative „eine außergerichtliche Einigung verhindert“, weshalb der ursprüngliche „Plan“ weiterverfolgt werde. Obschon die Gemeinde eine Wohnnutzung der Gewerbehalle auf zwei Jahre ausgeschlossen hat, kann das Landratsamt diese laut Rechtsanwalt Jürgen Greß über einen „Notausnahmetatbestand“ im Baugesetzbuch umgehen, um den beabsichtigten Ersatz für die zwei belegten Turnhallen in Bruckmühl und Raubling zu schaffen.
Rott a.Inn, 5. Februar 2024, 19 Uhr. Im Sitzungssaal des Rathauses sind alle Plätze besetzt. Der 16-köpfige ehrenamtliche Gemeinderat ist vollzählig erschienen. Rund 40 interessierte Bürger sind gekommen, darunter Vertreter der Bürgerinitiative (BI) „Rott rot(t)iert“. Vier überregionale Medienvertreter berichten. Ein Beleg: Diese kurzfristig einberufene öffentliche Gemeinderatssitzung mit dem Tagesordnungspunkt „Sammelunterkunft im Gewerbegebiet ‚Am Eckfeld‚“ ist für die Rosenheimer Landkreisgemeinde „eine der wichtigsten der letzten Jahre“, wie es Gemeinderat Sebastian Mühlhuber (CSU) formuliert. Ihre Wichtigkeit unterstreicht auch Marinus Schaber von der Fraktion „Bürger für Rott“ (BfR), seit 1990 Mitglied des Gemeinderats und ehemaliger 1. Bürgermeister von Rott a.Inn.
Inzwischen sind 18 Wochen vergangen, seitdem der 1. Bürgermeister Daniel Wendrock (BfR) von Landrat Otto Lederer (CSU) am 9. Oktober 2023 – dem Tag nach der Wahl zum Bayerischen Landtag – davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass das Landratsamt (LRA) im Rotter Gewerbegebiet einen 3.000 Quadratmeter großen Industriebau für die Erstaufnahme von 250 bis 300 Asylbegehrenden angemietet hat. Der Industriebau werde zur neuen Ankunftseinrichtung für alle im Landkreis Rosenheim „Ankommenden“. Das LRA bezwecke damit, die seit einem Jahr mit Migranten belegten Turnhallen in Bruckmühl und Raubling wieder den Schulen und Vereinen für den Sport zur Verfügung zu stellen sowie die ankommenden Personen von vornherein „adäquat“ unterzubringen.
„Migrationsdruck“
Tatsächlich hält laut Bundesinnenministerium der „Migrationsdruck“ an, gerade die illegale Zuwanderung. Allein die für grenzpolizeiliche Aufgaben im Freistaat Bayern zuständige Bundespolizeidirektion München (BPOLD M) hat im Jahr 2023 insgesamt 34.209 unerlaubte Einreisen registriert (2022: 29.229 Fälle). Selbst am Abend des 5. Februar 2024 nimmt die Bundespolizei Migranten in Kiefersfelden in Gewahrsam: Die Bundespolizeiinspektion bringt zehn Syrer im Alter zwischen 21 und 43 Jahren nach Rosenheim und leitet sie nach Abschluss der polizeilichen Maßnahmen an eine Aufnahmestelle für Flüchtlinge weiter.
Stichwort Asyl: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat im Zeitraum von Januar bis Dezember des letzten Jahres 329.120 Asylerstanträge entgegengenommen (2022: 217.774), im Vergleich zu 2022 eine Zunahme um 51,1 Prozent. 261.601 Entscheidungen über Asylanträge wurden getroffen (2022: 228.673), ein Anstieg um 14,4 Prozent. Die „Gesamtschutzquote“ für alle Staatsangehörigkeiten (Rechtsstellung eines Flüchtlings nach der Genfer Flüchtlingskonvention, subsidiärer Schutz gem. § 4 Abs. 1 AsylG und Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 o. 7 AufenthG) lag bei 51,7 Prozent (135.277 positive Entscheidungen). Im Vergleich zum Vorjahreswert (56,2 Prozent) sank die Gesamtschutzquote um 4,5 Prozentpunkte.
„Grundsätzliche Einwände“
Seit Mitte Oktober hat der Rotter Gemeinderat mehrfach seine laut Wendrock „grundsätzlichen Einwände“ gegenüber dem LRA vorgebracht. Auf der Bürgerversammlung vom 25. Oktober gab Lederer die unterzubringende Personenzahl neu mit 506 an. Da hatte sich die BI mit einem „Kernteam“ aus Nachbarn der geplanten Sammelunterkunft bereits gegründet. Sie bildete eine WhatsApp-Gruppe, richtete eine Website ein und startete die Online-Petition „Wir sagen NEIN zur geplanten Ankunftseinrichtung für 506 Flüchtlinge in der Gemeinde Rott“ (aktuell: mehr als 4.420 Unterstützer). Obendrein informierte sie das LRA schriftlich über ihre Bedenken hinsichtlich einer Schadstoffbelastung des ehemaligen Produktionsbetriebes einer Lampenfirma mit Quecksilber, organisierte Demonstrationen am 26. November im Rotter Kaisergarten und am 3. Dezember auf dem Gelände der Firma Hein gegenüber der geplanten Sammelunterkunft.
In der Gemeinderatssitzung erklärt Wendrock nun, der Bauantrag (BA) des LRA sei im Rahmen der Beteiligung der Gemeinde von dieser „umfassend geprüft“ worden. Der geschäftsleitende Beamte und Leiter der Geschäftsstelle, Maximilian Brockhoff, erläutert das Vorhaben. Er merkt an, dass die 506 Asylbegehrenden in dem Industriebau auf zwei Etagen jeweils in 12,25 Quadratmeter großen Parzellen mit je sechs Personen untergebracht würden und nur zehn Toiletten vorgesehen seien. Rechtsanwalt Jürgen Greß würdigt das Vorhaben baurechtlich. Die Münchener hgrs Hoffmann Greß Reitberger Sommer Rechtsanwälte Partnerschaft mbB vertritt die Gemeinde rechtlich. Dabei weist Greß darauf hin, dass die von der Gemeinde erlassene „Veränderungssperre“ zwar eine Wohnnutzung für zwei Jahre ausschließe, das LRA sich aber auf eine als „Notausnahmetatbestand“ bezeichnete Vorschrift des § 246 Abs. 14 Baugesetzbuch (BauGB) stützen könnte. So hat das Verwaltungsgericht Schwerin mit Beschluss vom 29. August 2023 den Eilantrag der Gemeinde Upahl im Landkreis Nordwestmecklenburg in Mecklenburg-Vorpommern gegen die Baugenehmigung für eine Containerunterkunft für 250 Asylbewerber und Flüchtlinge im Gewerbegebiet „An der Silberkuhle“ abgelehnt (2 B 1269/23 SN). Upahl hatte im März eine Veränderungssperre beschlossen, das Ministerium für Inneres, Bau und Digitalisierung jedoch eine Abweichung davon zugelassen und der Landrat die Baugenehmigung erteilt.
„Stichhaltige Argumente“
Demgegenüber habe Rott a.Inn „stichhaltige Argumente“ gegen die Ankunftseinrichtung: Wendrock zufolge ist die avisierte Gewerbehalle als Unterkunft ungeeignet, Wasserver- und Abwasserentsorgung sind nicht gesichert, die Schadstoffbelastung ist unklar, die Entwicklung des Baugebietes „Meilinger Feld“ sei auf Jahre gehemmt und eine dringende Entschuldung der Gemeinde auf unbestimmte Zeit verschoben. „Irre“, „unmöglich“, „völlig indiskutabel“, „menschenunwürdig“ nennen einige Gemeinderäte das Vorhaben des LRA in der Diskussion. Im Übrigen sei Rott a.Inn durch den Schulneubau die mit Abstand am höchsten verschuldete Gemeinde im Landkreis Rosenheim, könnte gar die erste sein, die einen Insolvenzantrag stellen müsste. Abschließend votiert der Gemeinderat einstimmig gegen den BA. In der Debatte um ein „Alternativangebot“ der Gemeinde (Ankunftseinrichtung für 100 Migranten auf Gemeindegrund) und einen „Kompromiss“ des LRA (Ankunftseinrichtung für 250 Migranten auf Alternativgrundstück) gehen die Meinungen indes auseinander.
Das „allerletzte Wort des Landrats“ wird den Gemeinderäten zur Kenntnis gebracht. Demnach „versichert“ das Landratsamt Wendrock schriftlich, unter fünf Bedingungen von der Nutzung des Grundstücks „Am Eckfeld“ abzusehen. So verlangt das LRA erstens einen positiven Gemeinderatsbeschluss für ein Alternativgrundstück, zweitens die Erteilung des gemeindlichen Einvernehmens nach § 36 BauGB für einen Bauantrag zur Errichtung einer Ankunftseinrichtung für Flüchtlinge und Asylsuchende für maximal 250 Personen, drittens eine schriftliche Zusicherung über die ausreichende Erschließung, insbesondere mit Wasser und Abwasser, viertens die Wirtschaftlichkeit des Alternativ-Vorhabens nebst die Zustimmung der Regierung von Oberbayern dazu sowie fünftens die Zustimmung des Vermieters zur Auflösung des Mietvertrages.
„Klage weiterverfolgen“
Während die CSU den „Kompromiss“ hauptsächlich wegen der „Halbierung“ der Personenanzahl, der Kündigungsmöglichkeit nach fünf Jahren und des unwägbaren Gerichtsverfahrens begrüßt, positionieren sich die BfR dagegen. Sie bezweifeln, dass das Sportgelände am Bahnhof als das einzige für einen Alternativstandort zur Verfügung stehende Grundstück baldmöglichst nutzbar gemacht und die dortige Nutzung als Ankunftseinrichtung nach fünf Jahren durch die Gemeinde wieder beendet werden kann. „Stattdessen wollen wir den Weg über eine Ablehnung des Bauantrages mit anschließender Klage weiterverfolgen.“
Entsprechend fällt die Abstimmung um 20.45 Uhr aus: Der Kompromiss wird bei sechs Stimmen dafür und elf dagegen abgelehnt. Damit bleibt es beim „Alternativangebot“ der Gemeinde an das LRA. Dieses erklärt jedoch postwendend: „Die Chance auf eine gemeinschaftliche Einigung wurde vertan.“ Der Gemeinderat habe „eine außergerichtliche Einigung verhindert“. Daher will Lederer den „ursprünglichen Plan weiterverfolgen und die Gewerbehalle in Rott für die Erstaufnahme von Geflüchteten als Ersatz für die Schulturnhallen nutzen“.
Allzu sicher dürfte sich das Landratsamt Rosenheim dennoch nicht wähnen. Das Verwaltungsgericht München hat mit Eilbeschluss vom 18. Januar 2024 dem Freistaat Bayern vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache untersagt, der Gemeinde Greiling im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen Asylbewerberleistungsberechtigte zur Aufnahme und Unterbringung in eigener Zuständigkeit zuzuweisen und Greiling zur Bereitstellung entsprechender Unterkünfte zu verpflichten. Die Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern im laufenden Asylverfahren ist zwar Aufgabe des Freistaats Bayern, wird jedoch zuvorderst von den Regierungen ausgeführt, in den Kreisgebieten auch durch die Landratsämter. Eine solche Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerberleistungsberechtigten in eigener Zuständigkeit stelle einen rechtswidrigen Eingriff in das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinde dar (M 24 E 23.5726).
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