Rosenheim — Einhundert Polizisten begleiten eine rund 600 Teilnehmer zählende Kundgebung gegen die Corona-Maßnahmen, 16 Beamte kontrollieren ein halbes Dutzend eng beieinanderstehende Personen, elf Streifenwagenbesatzungen beenden eine Geburtstagsfeier von geschätzt bis zu 30 Teenagern: Die Rosenheimer AfD-Landtagsabgeordneten Franz Bergmüller und Andreas Winhart halten solche Polizeieinsätze für „unverhältnismäßig“. Das Bayerische Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration dringt hingegen auf das Einhalten der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung. Ziel sei die Abwehr von „Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“.
Die Dienststellen des Polizeipräsidiums Oberbayern Süd (PP OBS) sind in der Corona-Krise besonders gefordert: Bei etlichen Einsätzen werden Corona-Testnachweise kontrolliert, Verstöße gegen die geltenden Infektionsschutzbestimmungen angezeigt, renitente Personen zur Identitätsfeststellung kurzfristig in Gewahrsam genommen sowie größere Menschenansammlungen, illegale Zusammenkünfte und Privatfeiern aufgelöst. Obgleich Großveranstaltungen untersagt sind, hat sich schon letztes Jahr die Zahl der öffentlichen Versammlungen im Schutzbereich des PP OBS nahezu verdreifacht (2019: 209, 2020: 571). Grund: der Protest gegen die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte sowie die Corona-Maßnahmen der Bayerischen Staatsregierung und der Bundesregierung (2020: 495 Kundgebungen).
Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Bezirksgruppe Oberbayern Süd, Andreas Nominacher, veranschaulichte noch vor Ostern: „Unsere Kollegen*innen sind seit Wochen tagtäglich bei Versammlungen und Veranstaltungen gefordert. Ein freies, erholsames Wochenende ist für viele zur Seltenheit geworden. Die Polizei ist aber nach wie vor stets für die Bevölkerung da, gewährleistet die Sicherheit und Ordnung im öffentlichen Raum und schützt die Grundrechte, vor allem das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit.“
Dem PP OBS zufolge verhält sich zwar die überwiegende Mehrheit der Versammlungsteilnehmer rechtskonform und friedlich, dennoch müssten immer wieder Verstöße gegen geltende Bestimmungen, etwa die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung (MNB), beanstandet werden. Überdies beobachtet der Verfassungsschutz den Protest gegen die Corona-Maßnahmen. Dieser ist jedoch laut dem jüngst vorgestellten Landesverfassungsschutzbericht für 2020 „größtenteils nicht-extremistisch geprägt“.
Polizeieinsätze in der Kritik
Drei Polizeieinsätze haben die AfD-Landtagsabgeordneten Franz Bergmüller und Andreas Winhart dazu veranlaßt, das Bayerische Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration nach Umfang und Verhältnismäßigkeit zu befragen: eine Kundgebung am 28. Februar in Rosenheim, eine angezeigte illegale Privatfeier am 6. März in Kematen, Bad Feilnbach, und eine angezeigte Versammlung am 9. März in Rosenheim. In seiner Antwort betont Staatssekretär Gerhard Eck, MdL (CSU), gesetzliche Aufgabe der Bayerischen Polizei sei, „Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren sowie die aus anderen Rechtsvorschriften übertragenen Aufgaben – insbesondere die Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten – zu erfüllen“. Spurensuche.
Fall 1. Der Polizeieinsatz am 28. Februar während der zweistündigen Kundgebung „Für ein Ende des Lockdowns, für die Wiederherstellung der Grundrechte“ mit rund 600 Teilnehmern auf dem Rosenheimer Max-Josefs-Platz sei als hoheitliches Handeln im Sinne des Art. 2 Abs. 1 Polizeiaufgabengesetz (PAG) zu begreifen. Eingesetzt wurden 70 Beamte der Bayerischen Polizei plus 30 Beamte der Bayerischen Bereitschaftspolizei. Keine Auskunft gibt das Staatsministerium über die Zahl der anwesenden „Vertrauensleute“ (V-Leute) des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz (BayLfV), damit sie nicht enttarnt werden. Teilnehmer, die sich ohne oder mit inkorrekt getragener MNB auf der Versammlungsfläche aufhielten, wären durch die Polizeikräfte zunächst verbal auf diesen Umstand hingewiesen worden. Erst wenn sich diese Personen dem ordnungsgemäßen Tragen einer MNB verweigert und keine Befreiung von dieser Pflicht glaubhaft gemacht hätten, wäre ein Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen sie eingeleitet worden. So stellten die Beamten 14 Anzeigen nach den Bestimmungen der 11. Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (BayIfSMV) aus: zwei vor Versammlungsbeginn, fünf während der Versammlung und sieben nach ihr.
Fall 2. Bei der Versammlung am 3. März in der Rosenheimer Kufsteinerstraße bestand eine unmittelbare Gefahr für die Öffentliche Sicherheit und Ordnung wegen der Nichtbeachtung des Bayerischen Versammlungsgesetzes (BayVersG). „Diese Gefahr zu unterbinden sowie die Verfolgung der Ordnungswidrigkeiten nach dem BayVersG war somit gesetzliche Aufgabe der eingesetzten Polizeibeamten“, erläutert Eck. So wurden von der Polizeiinspektion Rosenheim sechs Beamte (davon zwei in zivil), von der Verkehrspolizeiinspektion Rosenheim zwei Beamte und von den Operativen Ergänzungsdiensten Rosenheim acht Beamte eingesetzt. Sie stellten bei acht Personen die Identität fest, zeigten drei wegen Verstoßes gegen das BayVersG an, doch niemanden wegen Verstoßes gegen das BayIfSMV.
Fall 3. Die Geburtstagsfeier am 6. März stellte wegen der Nichtbeachtung der Vorgaben des BayIfSMV durch die vermutlich bis zu 30 Gäste eine unmittelbare Gefahr für die Öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. „Diese Gefahr zu unterbinden sowie die Verfolgung der Ordnungswidrigkeiten nach der 11. BayIfSMV war somit gesetzliche Aufgabe der eingesetzten Polizeibeamten“, erklärt Eck. Die Polizei war mit elf Streifenwagen angerückt.
Fortsetzung des Protestes
Ecks Ausführungen zum Trotz ist für Winhart weder die Kritik an der Verhältnismäßigkeit der Einsätze entkräftet noch ein solcherweise betriebener polizeilicher Aufwand gerechtfertigt. Massive Polizeieinsätze erzeugten eher selbst Aufsehen, wirkten überdies abschreckend. Die Kritik an den Corona-Maßnahmen zudem unter den Generalverdacht der Verfassungsfeindlichkeit zu stellen, sei abwegig, betont er als gesundheitspolitischer Sprecher der AfD-Fraktion im Bayerischen Landtag. Vielmehr begäben sich Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) und Ministerpräsident Dr. Markus Söder (CSU) mit den Änderungen des Infektionsschutzgesetzes „auf einen gefährlichen Weg, der unsere Gesellschaft nicht nur in einen möglichen Dauer-Lockdown führt, sondern zur Aushebelung unserer demokratischen Grundordnung beiträgt“. Aus Opposition zur Einführung der „Bundes-Notbremse“ veranstaltet die AfD daher am 24. April ab 15 Uhr auf dem Max-Josefs-Platz eine Kundgebung unter dem Motto „Lockdown beenden – Grundrechte wahren“.
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