Berlin/München — Betriebsschließungen, Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen, Distanzunterricht: Kurz vor Weihnachten soll bundesweit ein „harter Lockdown“ bewirken, was der seit dem 2. November geltende „Wellenbrecher-Lockdown“, der „Lockdown light“, nicht vermochte – die rasante Ausbreitung des neuartigen Coronavirus (SARS-CoV-2) verhindern. „Die Lage ist so ernst wie sie noch nie war in dieser Pandemie“, warnt der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Prof. Dr. Lothar Wieler. In Deutschland seien inzwischen 325.000 Menschen mit SARS-CoV-2 infiziert und 80-Jährige hätten ein hohes Risiko für schwere und tödliche Krankheitsverläufe. Wieler zufolge ist dies das „Ergebnis von Sorglosigkeit einiger Menschen“. Bayern hat bereits am 9. Dezember den Katastrophenfall ausgerufen. Nun gelten weitere Einschränkungen, etwa eine nächtliche Ausgangssperre. Ministerpräsident Dr. Markus Söder betont: „Wir müssen die Notbremse ziehen.“ Denn: „Alle 17 Minuten stirbt in Bayern ein Mensch.“ Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mahnt daher: „Die kommenden Wochen sind eine Prüfung für uns alle.“ Doch er sei sich „ganz sicher: Die Pandemie wird uns die Zukunft nicht rauben. Wir werden diese Krise überwinden.“
Kurz vor dem kalendarischen Winteranfang am 21. Dezember 2020 befindet sich Deutschland im „harten Lockdown“. Die zuvor im „Lockdown light“ geltenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens sind verschärft worden. Faustformeln helfen, sie zu befolgen: Grundsätzlich gelten die „AHA-L“-Regeln – Abstandhalten, Hygienemaßnahmen, Alltagsmasken und Lüften –, auch bei Gottesdiensten. Die Bundesregierung empfiehlt, zusätzlich die Corona-Warn-App (CWA) zu nutzen. Zwischen 21 Uhr und 5 Uhr gilt eine Ausgangssperre. Privatkontakte sind auf maximal fünf Personen aus zwei Haushalten begrenzt, Kinder bis 14 Jahre nicht mitgezählt. An den Weihnachtsfeiertagen vom 24. bis 26. Dezember sind Treffen mit vier über den eigenen Hausstand hinausgehenden Personen aus dem engsten Familienkreis möglich. An Silvester und am Neujahrstag gilt ein An- und Versammlungsverbot. Der Verkauf von Pyrotechnik ist verboten, vom Silvesterfeuerwerk wird abgeraten.
Der Einzelhandel bleibt weitgehend geschlossen, Ausnahmen: Lebensmittelhandel, Apotheken und Drogerien, Poststellen und Zeitungsverkauf, Tierbedarfs- und Futtermittelmärkte sowie der Weihnachtsbaumverkauf. Auch Dienstleistungsbetriebe zur Körperpflege wie Friseursalons, Kosmetikstudios oder Massagepraxen bleiben geschlossen, Ausnahmen: medizinisch notwendige Behandlungen. Restaurants bleiben geschlossen, Ausnahmen: Abholung oder Lieferung von Speisen, die nur zu Hause gegessen werden dürfen. Alkoholkonsum im öffentlichen Raum ist verboten. Kitas und Schulen bleiben geschlossen, Notfallbetreuung und Distanzlernen werden angeboten. Arbeitgeber sollen Betriebsstätten schließen und Homeoffice ermöglichen. Die Ausnahmen im kleinen Grenzverkehr sind gestrichen. Details sind online abrufbar unter www.bundesregierung.de und www.bayern.de.
Merkel: „Verschwörungstheorien“ bekämpfen
„Corona ist die Katastrophe unserer Zeit“, begründet Ministerpräsident Dr. Markus Söder (CSU) die Maßnahmen in Bayern. Fakt: Die im Zuge des „Lockdown light“ und der „Hotspotstrategie“ von der Staatsregierung ergriffenen Maßnahmen haben, wie in der Zehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (10. BayIfSMV) notiert, keinen Rückgang der Fallzahlen bewirkt. Vielmehr kommt es im Freistaat weiter zu diffusen Infektionsgeschehen mit zahlreichen regionalen Hotspots und hospitalisierten COVID-19-Patienten. „Wenn wir jetzt nicht konsequent runterfahren, sind die Schäden enorm groß, und das wollen und werden wir nicht verantworten.“ Hierbei müsse jeder mitziehen. Weder für Familien noch für Kirchgänger würden Sonderregeln gelten. Und: „Wer Corona immer noch im parteipolitischen Klein-Klein behandelt, der macht sich mitverantwortlich dafür, dass wir die Situation nicht entkräften und verbessern können“, warnt Söder.
Dabei hält Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) unvorsichtiges Verhalten für „verheerend“: „Manche fordern das Risiko heraus.“ Obgleich täglich mindestens 400 Menschen an oder mit COVID-19 stürben, sinke die Bereitschaft für Einschränkungen. Merkel mahnt: „Ob meine Eltern mit 80 oder mit 90 sterben, ist schon ein Unterschied.“ Überdies ruft die CDU-Politikerin zu einem konsequenten Kampf gegen „Verschwörungstheorien“ auf. „Das ist ja im Grunde ein Angriff auf unsere ganze Lebensweise“, meint Merkel. „Das übliche Argumentieren, das hilft da nicht, deshalb ist das für uns schon eine besondere Herausforderung.“ Und: „Das wird vielleicht auch eine Aufgabe für Psychologen sein.“ Zuvor hatte CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak bereits Demonstrationen der „Querdenken“-Bewegung scharf kritisiert. „Die Versammlungsfreiheit ist ohne Zweifel ein hohes Gut in einer freiheitlichen Gesellschaft. In einer solchen gefährlichen Pandemie sind Aufrufe zu Großdemonstrationen aber nichts weiter als der Ausdruck von größtmöglicher Rücksichtslosigkeit und grenzenlosem Egoismus.“
Braun: „Lockerung unwahrscheinlich“
Grundsätzlich soll dieser Lockdown bis einschliesslich 10. Januar 2021 gelten. Doch Prof. Dr. Helge Braun (CDU), Kanzleramtsminister und Bundesminister für besondere Aufgaben, hat bereits Hoffnungen auf eine zügige Aufhebung gedämpft. „Eine umfassende Lockerung halte ich für sehr, sehr unwahrscheinlich“, denn: „Januar und Februar sind immer, was Atemwegsinfektionen angeht, besonders schwierige Monate.“ So lange es im Winter nicht genügend Impfstoff gebe, „werden wir noch schwierige Tage erleben“, sagt der Mediziner. Auch Söder kann sich „nicht vorstellen, dass einfach alles wieder so normal weitergeht“: Mit einem Inzidenzwert über 200 sei der Freistaat „ein Hotspot“.
Allerdings meldet die gewerkschaftliche Hans-Böckler-Stiftung (HBS), dass sich die Sorgen der Bürger um die eigene wirtschaftliche Lage und den gesellschaftlichen Zusammenhalt verschärfen: Im November berichteten 40 Prozent der Befragten von eigenen Einkommenseinbußen, im Juni hatten das erst 32 Prozent gesagt. Des Weiteren erleben viele junge Menschen die Pandemie als Zeit großer psychischer Belastung. Laut der bundesweiten Studie „JuCo 2“ des Forschungsverbunds „Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit“ haben knapp 46 Prozent der befragten 15- bis 30-Jährigen Angst vor der Zukunft. Besonders jene, die nicht mehr zur Schule gehen, klagen über Einsamkeit, finanzielle Sorgen und andere Nöte. Ferner trübt der Lockdown nach Angaben der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) die Freude vieler Deutscher auf das Weihnachtsfest. Laut einer Erhebung vermerken 59 Prozent der Befragten – vor allem Ältere –, dass ihnen insbesondere vorweihnachtliche Rituale fehlten, etwa Weihnachtsfeiern, Besuche auf dem Weihnachtsmarkt und Treffen mit Freunden oder Kulturveranstaltungen. Immerhin freuen sich 40 Prozent der 18- bis 39-Jährigen mehr auf Weihnachten als sonst, vermutlich gerade junge Eltern wegen der Pause vom Stress.
Optimistisch zeigt sich indes Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), dass am 23. Dezember eine Impfstoff-Zulassung erfolgt. Komme die europäische Impfstoff-Zulassung vor Weihnachten, könne in Deutschland noch vor dem Jahreswechsel mit dem Impfen begonnen werden. Bis Ende Sommer 2021 könnten dann rund 60 Prozent der Bundesbürger gegen SARS-CoV-2 geimpft sein. Beim „harten Lockdown“ rechnet Spahn hingegen nicht mit schnellen Effekten: „Auch eine Vollbremsung wird eine lange Bremsspur haben.“
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