Die Kunst gilt als ein Spiegel der Gesellschaft und sogar als Motor der Demokratie. Dass diese Kraftmaschine von der Bundesregierung im Zuge der Anti-Corona-Maßnahmen nach eigener Beurteilung hoch- und runtergefahren wird, hat bei Künstlern für viel Unmut gesorgt. Olaf Neumann wollte von Stars des Kulturbetriebs wissen, wie sie sich in diesen schwierigen Zeiten ihre Hoffnung bewahren.
Kunst ist das Fenster, durch das der Mensch seine höhere Fähigkeit erkennt. Sie hat das Vermögen, uns zusammen zu führen – abseits von Nationalität, Identität, Religion oder Politik. Manche jedoch attestieren kulturellen Veranstaltungen schlicht keine Systemrelevanz. Das öffentliche Leben könne ohne sie weiter funktionieren, auch wenn es um den Teilaspekt der Kultur ärmer wird.
Fakt ist: Die gesamte Veranstaltungsbranche ist in Deutschland der sechstgrößte Wirtschaftszweig. Laut der IGVW (Interessengemeinschaft Veranstaltungswirtschaft) beschäftigt sie rund 1,7 Millionen Menschen und setzt jährlich etwa 130 Milliarden Euro direkt um. Doch im Zuge der Pandemiebekämpfung hat die Bundesregierung Maßnahmen beschlossen, die für viele Künstler faktisch einem Berufsverbot gleichkommen. „In den letzten Monaten gaben Sie uns das Gefühl, weniger wert zu sein als Autos, Flugzeuge und Fußballspieler”, heißt es in einem scharfen offenen Brief an Verantwortliche der Regierung. Zu den Unterzeichnern gehören Carolin Kebekus, Dieter Nuhr, die Ärzte und Peter Maffay. Hart arbeitende Menschen, die befürchten, dass unsere einzigartige Kulturlandschaft den Anti-Coronamaßnahmen zum Opfer fällt. Was aus ihrer Sicht zu einer geistigen wie finanziellen Verarmung des Landes führen würde.
Die Bundesregierung unterstützt zwar Kulturschaffende während der Corona-Pandemie und hat Programme aufgelegt, um die Zukunft dieser Menschen zu sichern, dennoch fällt es Henning May, 28, von der Kölner Band AnnenMayKantereit “immer schwerer zu glauben, dass die Passgenauigkeit der politischen Maßnahmen für die Kulturbranche nur zufällig so schlecht ist. Das ist verrückt: Es muss doch irgendjemand wissen, dass die meisten Leute dieses Geld nicht nutzen oder anrühren können. Es muss auch jemand wissen, dass mit den jetzigen Hilfen irgendwelche Gastronomen ihre Umsätze für einen Monat künstlich in die Höhe treiben, um mehr Hilfen zu kassieren, die sie eigentlich nicht verdient haben. Es gibt gerade sehr viele überstürzte politische Entscheidungen, die ohne Interessenvertreter der Betroffenen gefällt wurden.“ Das alles regt den Sänger so auf, dass er einfach ein Konzeptalbum zur Corona-Pandemie machen musste.
Die 16 melancholisch-düsteren bis hoffnungsvollen Lieder auf ‚12’ sind das Resultat einer gemeinsamen Musik-Quarantäne des Trios AnnenmayKantereit. Sie verzichten auf Plattitüden und Ratschläge. In der Klavierballade ‚Das Gefühl’ erinnert May sich daran, wie es war, als gestern noch 1000 Stimmen seine Songs mitgesungen haben und die Funken übersprangen. „Das, was ich am meisten liebe, ist weg: mit meinem geliebten Team zu reisen und auf Bühnen zu stehen“, erzählt er. „Ich gebe weniger und bekomme weniger. Ich glaube, dass wir als viele Tausende von Individuen nur gesund leben können, wenn wir immer wieder gemeinsam etwas fühlen. Ich kann es kaum in Worte fassen, wie schlimm ich es finde, dass wir diesen gemeinsamen Raum nicht mehr haben. Gerade weil Corona-Leugner und Hetzer sich ohne Regeln diesen Raum nehmen. Dadurch werden wir anderen ein Stück weit schwächer als sie, weil wir uns an die Regeln halten. Verkehrte Welt.“
Auch Deutschlands Vorzeige-Punker von den Toten Hosen träumen gerade von „fetten“ Rockkonzerten. „Sicherlich könnten wir in einer großen Halle vor nur 250 Menschen spielen, die unter Corona-Bedingungen in auf dem Boden markierten Kreisen stehen“, so Frontmann Campino alias Andreas Frege beim Interview in Berlin. „Das ist aber nicht meine Vorstellung von einem guten Rockkonzert. Wir beißen lieber die Zähne zusammen und versuchen, die Sache zu überstehen, bis eine Lösung gefunden wurde. Die Toten Hosen sind der komplette Gegenentwurf zum Leben in Corona-Zeiten. Wir legen Wert auf Nähe und Umarmungen. Wir wollen feiern, tanzen, schwitzen, trinken. Der Topf soll überschwappen. Wir sind die Letzten, denen man gestatten wird, mit großem Hallo wieder auf die Bühne zu gehen. Aber wir werden das aushalten.“
Die ersten zwei Wochen im Frühjahrs-Lockdown waren für Rea Garvey und seine Frau Josephine sehr unangenehm, weil die beiden es nicht mögen, wenn ihnen gesagt wird, dass sie irgendetwas nicht mehr dürfen. Sie mussten erst lernen, mit den Corona-Beschränkungen anders zu planen. „Ich hatte unser Studio erst im Januar fertiggestellt“, so der 47jährige Ire, „und dann musste ich es komplett auf online umstellen“. Rückblickend eine kluge Entscheidung, weil der Musiker dadurch eine positive Beschäftigung fand. Seitdem hat Garvey bereits 22 Online-Shows realisiert. Diese wurden im Lauf der Zeit über 200.000 Mal angeschaut. Seine Erkenntnis: „Statt zu sagen, dass alles schlecht ist, sollte man sich lieber innerhalb der Beschränkungen etwas Positives oder Kreatives ausdenken. Wir verdienen mit den Yellow-Jacket-Sessions natürlich kein Geld, das darf aber nicht von Dauer sein. Ich bin Entertainer, das ist meine Rolle in der Gesellschaft. Auch wenn wir Künstler das Gefühl haben, von der Politik vergessen worden zu sein, habe ich immer noch mein Talent. Am Ende möchte ich sagen können: Ich bin stolz auf das, was ich in der Corona-Zeit gemacht habe.“
Auch Ina Müller ist das unberechenbare Virus in die Quere gekommen, als sie mit der Arbeit an ihrem neuen Album ‚55’ anfing. Im Studio durfte immer nur ein Musiker sein und trommeln bzw. Gitarre spielen. Dank Corona hatte die Sängerin und Moderatorin noch nie so viel Zeit für ein Album. „Sonst habe ich immer viel auf den letzten Drücker erledigt und manche Dinge nicht richtig gut zu Ende gebracht“, weiß die 55jährige Wahlhamburgerin zu berichten. Diesmal kann ich aber sagen: So, besser geht’s nicht!”
Viele der Lieder auf der Platte sind ausgesprochen melancholisch. Das kommt nicht von ungefähr. „Ich habe 55 glückliche Jahre auf dieser Welt verbracht“, erzählt die quirlige Müller bei einem persönlichen Treffen in Hamburg. „Zum ersten Mal fühle ich das nicht mehr so, seit es Corona gibt und sehr viele große und wichtige Länder auf der Welt von Despoten regiert werden. Früher dachten wir, es würde nie wieder Krieg geben, weil wir viel zu aufgeklärt sind. Da bin ich mir heute überhaupt nicht mehr sicher”. Die Bedrohung und die Angst und die Sehnsucht nach der Unbeschwertheit sind dann auch in das eine oder andere Lied auf der Platte eingeflossen. „Die vergangenen 50 Jahre waren doch die fettesten!”, stellt Müller unmissverständlich klar. “Es gab alles, was wir brauchten und wenig, was wir richtig beschissen fanden. Es gab die Emanzipation, die Pille, Antibiotika, Impfstoffe. Heute kennen wir natürlich die Nachteile für die nächsten Generationen, die wir verursacht haben.“
Politische Auseinandersetzungen werden heute sehr aggressiv geführt. Unter den Teilnehmern der regelmäßig in ganz Deutschland stattfindenden Querdenker-Demonstranten marschieren zahlreiche Menschen, die Corona leugnen und keine Masken tragen neben Hooligans und Rechtsextremisten. Vor diesem Hintergrund ist Ina Müller „ganz froh, dass wir eine besonnene Angela Merkel als Kanzlerin haben. Ich bin zwar vom Virus, aber eigentlich nicht von der politischen Situation in Deutschland gefrustet. Die Regierung versucht ihre Bevölkerung zu schützen, indem sie sagt: Bitte wascht euch die Hände, tragt Masken und hört auf zu feiern! Es geht hier um ein Virus, das wir nicht kennen. Und wer sollte da auch die Verantwortung übernehmen, und sagen: ‚Ok, nehmt die Masken ab, lass laufen, mal gucken was passiert’. Die Politik? Drosten? Der Papst?“
Gary Barlow wurde als Leadsänger und Songschreiber von Take That weltberühmt und verkaufte mit dieser Band bis heute 50 Millionen Tonträger. Seit Mitte März veröffentlicht der 49jährige Brite unter dem Hashtag #thecroonersessions besondere Aufnahmen. Häufig wird er dabei von prominenten Kollegen wie Robbie Williams, Rick Astley, Cliff Richard oder Ronan Keating unterstützt. „Die Crooner-Sessions sind auch eine Reaktion auf die Nachrichten, die ich in der Corona-Krise von meinen Fans über die Sozialen Medien erhalten habe”, berichtet er im Videointerview. „Ich wusste irgendwann sehr gut darüber Bescheid, wie sich mein Publikum fühlt, ich kannte seine Nervosität und Angst. Deshalb beschloss ich, die Leute mit etwas Unterhaltung abzulenken, und wenn es nur für drei Minuten ist.“
Ihre Kreativität scheint bei vielen Künstlern der Schlüssel zum Optimismus zu sein. Barlow ist hinsichtlich der Pandemie zuversichtlich, weil der Mensch clever sei. „Er wird einen Weg finden, diese Krise zu bewältigen. Eines Tages werden wir wieder alle ganz normal ins Theater oder Konzert gehen können, weil es einen Impfstoff gegen Covid-19 geben wird. Das mag noch ein bisschen dauern, weil dieses Virus für uns neu ist. Aber ich glaube fest an die Fähigkeiten des Menschen. Er wird über kurz oder lang eine Lösung finden.“
Peter Maffay hat gerade mit Michael Patrick Kelly und dem Ndlovu Youth Choir den Charity-Song ‚Hoffnung’ für Kinder in Not komponiert. Was ihm Zuversicht gibt in dieser chaotischen Zeit: seine Kinder im Alter von zwei und 17 Jahren. Wie jeder Familienvater sei er allein durch die Existenz der Kids gefordert, die Flinte nicht ins Korn zu werfen. „Sie haben ein Recht darauf, dass wir Erwachsenen uns bewegen und etwas tun, wenn Dinge aus dem Ruder laufen“, findet der 71jährige Deutsch-Rumäne. „Ob es das Klima oder eine gesellschaftliche Spaltung ist – es gibt eine Menge zu tun. Die Jugend fordert zu recht ein, dass wir Erwachsenen uns bewegen. Das funktioniert aber nur, wenn man kein Pessimist ist. Ansonsten hätte man keine Kraft.“
Was Peter Maffay antreibt, ist nicht Zweckoptimismus, sondern eher eine moralische Verantwortung. Diese beobachtet er auch bei vielen anderen. „Meine Haltung ist positiv, so lange der liebe Gott uns Gesundheit gibt. Da krempelt man die Ärmel hoch und versucht, sein Bestes zu geben.“ Olaf Neumann
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