Berlin/München – Die Kontroverse wird schärfer: Der Protest gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie schwillt an, geht trotz erster behördlicher Lockerungen in die Breite, entwächst den Sozialen Netzwerken und zeigt sich auf den Straßen. Ersten ungeordneten Demonstrationen tausender Bürger folgen zivile Kundgebungen. Ob in Metropolen wie Berlin, München, Nürnberg oder Stuttgart, in bayerischen Oberzentren wie Bad Reichenhall, Rosenheim und Traunstein oder Mittelzentren wie Traunreut und Waldkraiburg: Mit sichtbarer Polizeipräsenz und klarer Einschreitlinie nehmen unterschiedlich motivierte Demonstranten das Recht auf Versammlungsfreiheit wahr und protestieren nun meist unter Einhaltung der Bestimmungen zum Infektionsschutz für ihre Anliegen. Da letztes Wochenende keine nennenswerten Störungen festgestellt wurden, fiel die Bilanz der Dienststellen des Polizeipräsidiums Oberbayern Süd positiv aus. Zugleich wird immer eindringlicher von der Teilnahme an „Corona-Demos“ abgeraten: Interessenverbände, Parteien und Verfassungsschutz warnen vor Falschinformation, extremistischem Gedankengut, Verschwörungstheorien, Lügen, Hass und Hetze.
Der Status quo der COVID-19-Fälle ist eindrücklich: In Rosenheim sind mit Stand 19. Mai 2020 insgesamt 2.727 Fälle aufgetreten (Stadt: 507, Landkreis: 2.220) – von diesen sind 196 Personen verstorben (Stadt: 24, Lkr: 172), 1.789 Personen genesen, 130 Personen in stationärer Behandlung, hiervon 21 Patienten auf einer Intensivstation. Die 7-Tage-Inzidenz, also die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen, liegt für die Stadt Rosenheim bei 17,37 und für den Landkreis Rosenheim bei 15,71. Der erste Infizierte wurde hier am 29. Februar 2020 registriert. Im Landkreis Mühldorf am Inn sind bislang 495 Fälle aufgetreten – von diesen sind 27 Personen verstorben, 453 Personen genesen, 55 Personen in stationärer Behandlung, hiervon fünf auf einer Intensivstation. Die 7-Tage-Inzidenz liegt bei 0,9. Der erste Infizierte wurde am 17. März 2020 registriert.
Kernforderungen auf den „Corona-Demos“
Mundschutz oder „Maulkorb“: Mit Fortdauer der durch die Corona-Krise begründeten Einschränkungen steigt die allgemeine Gereiztheit. Der vermeintliche Schulterschluss zwischen Virologen, Politikern, Mainstreammedien und Bürgern scheint einer gesellschaftlichen Polarisierung zu weichen. Immer mehr Lockdown-müde Bürger äußern nach der Rücknahme der Quarantänemaßnahmen offen ihren Unmut auf sogenannten „Corona-Demos“. Die meisten Demonstranten artikulieren so ihre Sorgen über die Folgen des verordneten „Social Distancing“, die finanziellen Einbußen durch den als alternativlos deklarierten Lockdown, die dramatischen Konsequenzen des Wirtschaftseinbruchs sowie die beispiellosen Eingriffe in die freiheitlichen Grundrechte. Im Detail werden etwa
- die Maskenpflicht als Placeboschutz kritisiert,
- die Hygiene- und Distanzregeln für Kinder und Senioren als widersprüchlich beurteilt,
- die Öffnungsstrategie bei Freizeitstätten als nicht nachvollziehbar gesehen,
- das Verbot kontaktlosen Sports als unverständlich erachtet,
- die pauschale Unfehlbarkeit von Wissenschaftlern als abwegig verworfen sowie
- der Wechsel der Kennzahlen für die Entwicklung der Pandemie – von Fallzahl über Verdopplungsdauer und Reproduktionswert bis hin zur Obergrenze – bemängelt.
„Corona-Crash“ und „ökonomischer Schock“: Der partielle Shutdown hat dramatische Folgen. Der Börseneinbruch von 34 Prozent zählt bereits zu den schwersten Krisen der letzten 120 Jahre. Darüber hinaus befindet sich die Europäische Union (EU) in der schwersten Rezession ihrer Geschichte: „Europa erlebt einen ökonomischen Schock, wie es ihn seit der großen Depression nicht mehr gegeben hat“, konstatiert Paolo Gentiloni, EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung sowie Kommissar für Steuern und Zollunion in der Kommission von der Leyen. Die Wirtschaftsleistung der Eurozone könnte dieses Jahr um 7,7 Prozent schrumpfen, die der EU als Ganzes um 7,4 Prozent. Und die für 2021 prognostizierte deutliche Erholung werde diesen Einbruch noch nicht wettmachen. Dies zu thematisieren und deswegen zu demonstrieren wird durch die Teilnahme von „Wirrköpfen“ und „Populisten“ nicht disqualifiziert.
Widersprüchliche Stimmungslage
Aktuelle Umfragen bestätigen die Anspannung. So ist die Stimmungslage in der Bevölkerung „eingebrochen wie nie zuvor, in kürzester Frist“, erläutert Prof. Dr. Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach (IfD Allensbach). Bereits Ende März sah nur etwa jeder Vierte (24 Prozent) mit Hoffnung den kommenden zwölf Monaten entgegen, 76 Prozent äußerten bereits Befürchtungen. Der Studie „COVID-19 Consumer Pulse“ des Marktforschungsinstitutes GfK zufolge glaubt inzwischen jeder Dritte, dass sich seine finanzielle Situation in den nächsten zwölf Monaten verschlechtert. Ein Viertel der Befragten will auf Urlaub verzichten, sieben Prozent wollen den Kauf von Kleidung, Autos und Luxusgütern verschieben.
Eine Umfrage des Marktforschungsunternehmens McKinsey unterstreicht, solange kein Impfstoff gegen das Coronavirus zur Verfügung stehe, wollen 40 Prozent der Verbraucher seltener öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, Züge oder Flugzeuge nutzen, sondern eher zu Fuß gehen oder auf Fahrrad oder Auto zurückgreifen. Ein Drittel der Befragten will auch nach dem Abflauen der Corona-Krise seltener auf Konzerte, ins Theater oder ins Kino gehen, 26 Prozent überhaupt nicht. Im Übrigen ist jeder dritte Beschäftigte in der Corona-Krise ins Homeoffice gewechselt, meldet das Deutsche Institut der Wirtschaftsforschung. In der ersten April-Hälfte gaben 35 Prozent an, teilweise oder vollständig von zu Hause aus zu arbeiten. Vor der Pandemie waren es zwölf Prozent.
Mittlerweile wächst auch die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes: Seit Januar hat sich laut dem Online-Makler Check24 das Interesse am Arbeitsrecht in der Rechtsschutzversicherung vervierfacht. Für April verzeichnet die Bundesagentur für Arbeit (BA) einen Zuwachs von rund 300.000 Arbeitslosen, die Arbeitslosenquote ist auf 5,8 Prozent gestiegen (+0,7 Punkte). Mehr als zehn Millionen Menschen sind in Kurzarbeit – zehnmal so viele wie in der Finanzkrise 2008/2009. Außerdem wirkt sich Kurzarbeit „in abgeschwächter Form“ auf die gesetzliche Rentenversicherung aus, äußert Dirk von der Heide von der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV), wobei während der Kurzarbeit und des Arbeitslosengeldbezugs weiterhin Beiträge entrichtet werden. Allerdings schätzt der Versicherungskonzern Allianz, dass die Rentenkasse in diesem Jahr acht Milliarden Euro weniger einnehmen könnte. Daneben äußern in einer Erhebung für „Haus & Grund Deutschland – Zentralverband der Deutschen Haus-, Wohnungs- und Grundeigentümer e. V.“ sechs Prozent der Mieter, bei ihnen führten Einkommenseinbußen wegen der Pandemie dazu, dass sie die Miete nicht zahlen könnten. Derweil ist für die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) immer noch ungeklärt, wie Quarantänemaßnahmen für wohnungslose Menschen sichergestellt werden können: In manchen Kommunen gebe es Einrichtungen, in einigen würden Hotels angemietet.
Der Lockdown führt auch zu volkswirtschaftlichen Verwerfungen. Beispielsweise verzögert die Corona-Krise nach Einschätzung des „BFW Bundesverband Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen e. V.“ die Genehmigung und Fertigstellung von Bauprojekten stark. In einer Verbandsumfrage gaben 75 Prozent der befragten Immobilienfirmen an, ihr Geschäftsbetrieb sei beeinträchtigt. 65 Prozent der Bestandshalter und 79 Prozent der Bauträger und Projektentwickler berichteten von Problemen. Nach Schätzung des „Bundesverband der Deutschen Tourismuswirtschaft e. V. (BTW)“ könnten zwei Drittel der Unternehmen kurz- bis mittelfristig Insolvenz anmelden. In der Gesamtbranche inklusive Gastgewerbe seien bis zu eine Million Menschen von Arbeitslosigkeit bedroht.
Daneben sieht sich jeder zehnte Einzelhändler von Insolvenz bedroht, hat der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) ermittelt. Anfang Mai gaben von 10.000 befragten Unternehmen knapp 40 Prozent an, ihre Investitionen für das laufende Jahr kürzen zu wollen. Fast jeder dritte Betrieb beklagte Liquiditätsengpässe. Und dem Freistaat Bayern drohen bis 2022 Steuerverluste von rund 10,8 Milliarden Euro: Nach einer Steuerschätzung des Bayerischen Staatsministers der Finanzen und für Heimat, Albert Füracker (CSU), fehlen dem Fiskus in diesem Jahr im Vergleich zur bisherigen Steuerkalkulation 5,5 Milliarden Euro, im kommenden Jahr weitere 2,7 Milliarden Euro und 2022 nochmals 2,6 Milliarden Euro.
Beunruhigte Datenschützer, Bürger- und Staatsrechtler sorgen sich indessen um den demokratischen Rechtsstaat. Deutschen Verfassungs- und Verwaltungsgerichten liegen rund 1.000 Eilanträge vor, die etwa die Maskenpflicht, Versammlungsverbote, Reisebeschränkungen, Gottesdienst-Auflagen oder Regelungen für Geschäftsöffnungen betreffen. Kritiker mahnen die Wahrung der Grundrechte an bei der Einführung einer Überwachungs-App zur Nachverfolgung von Infektionsketten („Contact Tracing“) oder von Corona-Immunitätsnachweisen. Die wegen der Registrierungspflicht erhobenen Daten beim Besuch von Freizeiteinrichtungen wie Gaststätten, Fitnessclubs und Tanzschulen dürften nur zweckbezogen erhoben werden und müssten nach einem begrenzten Zeitraum vernichtet werden.
Ein ganz anderes Bild zeichnen dagegen Wahlumfragen. Danach will laut einer Umfrage von infratest-dimap für den ARD-Deutschlandtrend mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten an den bestehenden Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie festhalten: So sehen 56 Prozent der Befragten weitere Normalisierungsschritte kritisch, 40 Prozent befürworten eine Lockerung der Maßnahmen, drei Prozent antwortet unbestimmt und ein Prozent macht keine Angaben. Überdies ist das Vertrauen in bestimmte politische Ämter und Institutionen einer Forsa-Umfrage zufolge in der Corona-Krise gewachsen: Dem Amt des Bundespräsidenten bringen 76 Prozent der Befragten sehr großes oder großes Vertrauen entgegen (plus drei Prozent), Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) gewinnt 22 Prozentpunkte und rangiert auf Platz zwei mit 72 Prozent. Den größten Vertrauensschub mit einem Plus von 26 Punkten erhält im RTL/ntv-Trendbarometer die Bundesregierung mit 60 Prozent (dritter Rang).
Desinformationskampagnen und Verschwörungstheorien
Politik und Behörden sind gleichwohl angespannt. „Corona-Demos“ haben ein hohes Aktivierungspotenzial: Die angemeldete Teilnehmerzahl wird mitunter weit überschritten. Auf den Kundgebungen finden sich nicht nur Kritiker der Einschränkungen, Gegner einer Impfpflicht sowie Skeptiker ein, die die regierungsoffiziellen Verlautbarungen teilweise oder gänzlich in Zweifel ziehen. Gelegentlich wird auch demonstrativ gegen die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung und der Wahrung eines Sicherheitsabstandes verstoßen. Daher hat beispielsweise in Rosenheim die Stadtverwaltung aufgrund der Infektionslage entschieden, dass die Innenstadt bis auf weiteres nicht mehr für Versammlungen zur Verfügung steht. Ärzte und Virologen befürchten zudem die Verbreitung gefährlicher Falschinformation über das Infektionsgeschehen.
Das Bundesinnenministerium thematisiert überdies Desinformationskampagnen von Reichsbürgern, Identitären, Neonazis und ausländischen Regierungen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Bundesrepublik und der Europäischen Union angriffen. Außerdem werden laut Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, „Untergangsszenarien entworfen, um Zustimmung zu radikalen und extremistischen Positionen zu erzeugen“. Entsprechend zeigt der Mühldorfer Landtagsabgeordnete Dr. Marcel Huber (CSU) zwar Verständnis dafür, „dass es den Leuten irgendwann zu viel wird“ bezüglich der Auflagen, doch bei mancher Kritik „spielen ideologische und staatsfeindliche Gründe mit, die mit der Realität nichts zu tun haben. Mich befremdet das“.
CDU, CSU, SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN erklären unisono, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit werde auch während der Corona-Krise gewahrt, und warnen vor einer Vereinnahmung der Kundgebungen durch „Corona-Leugner“, Verschwörungstheoretiker, Rechtspopulisten, Extremisten und Judenhasser. So nimmt die CDU nach den Worten ihres Generalsekretärs Paul Ziemiak die Sorgen der Bürger ernst: „Aber klar ist auch, dass wir konsequent gegen diejenigen vorgehen, die jetzt die Sorgen der Bürger mit Verschwörungstheorien anheizen und Fake News in Umlauf bringen.“ Daneben ruft SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil zum „Widerstand der normalen Leute“ auf gegen Leute, die „unser System destabilisieren“ wollen. Konstantin von Notz, stellvertretender Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/DIE GRÜNEN im Bundestag, sekundiert, an den Kundgebungen nehmen auch jene teil, „die das System grundsätzlich infrage stellen und Politiker insgesamt für Marionetten von George Soros und Bill Gates halten“. In Bayern warnt Innenminister Joachim Herrmann (CSU) deshalb, „dass zunehmend krude Verschwörungstheoretiker und Extremisten verschiedenster Couleur die Corona-Pandemie für ihre gefährliche Propaganda nutzen“.
Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Dr. h.c. Charlotte Knobloch, betont zudem: „Das Geraune von geheimen Mächten und finsteren Plänen, das viele dieser Proteste bestimmt, trägt ganz klar antisemitische Züge.“ Und der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, hält viele der Kundgebungen für „hochgefährlich, weil sie das Vertrauen in unseren demokratischen Staat untergraben und ein Sammelbecken bilden, in dem sich neben teils sehr obskuren anderen Geisteshaltungen verschwörungswütige Antisemiten und Holocaust-Leugner finden“. Staat und Bürger müssten dem „mit aller Macht“ entgegentreten.
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