Pädagogen wütend über „Notmaßnahmen“!
Lehrer an bayerischen Grund-, Mittel- und Förderschulen protestieren gegen die Neuregelung ihrer Arbeitsbedingungen ab dem Schuljahr 2020/2021. Anfang Januar hatte der Bayerische Staatsminister für Unterricht und Kultus, Prof. Dr. Michael Piazolo (Freie Wähler), eine Kombination aus dienstrechtlichen und freiwilligen Maßnahmen zur „Sicherung der Unterrichtsversorgung“ an Grund- und Mittelschulen angeordnet. Danach sollen die Pädagogen vorübergehend jede Woche eine Stunde mehr arbeiten, mindestens 24 Wochenstunden leisten, frühestens mit Vollendung des 65. Lebensjahres in den Ruhestand gehen und keine „Sabbatjahre“ mehr einlegen dürfen.
Nach landesweiten Protesten der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV) am „Aktionstag Lehrermangel: So nicht!“, hat eine Petition auf change.org nun knapp 47.000 Unterzeichner gefunden, welche unter anderem die „verpflichtende Erhöhung der Wochenstunden bei gleichzeitiger De-Facto-Reduzierung des durchschnittlichen Stundenlohns“ kritisiert.
„Die Lehrerinnen und Lehrer sind wütend, zornig und stinksauer“, beschreibt BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann den Unmut der Betroffenen. Die „Notmaßnahmen“ des Kultusministers bestätigten die Warnungen des BLLV vor einem drohenden Lehrermangel: Die Lehrkräfte fühlten sich seit Jahren mit den Herausforderungen alleine gelassen und versuchten, die personelle Unterversorgung zu kompensieren. Zum Dank würden sie nun mit Notmaßnahmen „gequält“, was sie weiter demotivierte, wirft die BLLV-Präsidentin dem Kultusminister vor. Konsequenz: „Der BLLV sagt jedenfalls Nein zum Arbeitszeitkonto, Nein zur Anhebung der Antragsaltersgrenze und Nein zu den Einschränkungen bei den Teilzeitmöglichkeiten.“
Offen schildert beispielsweise das Kollegium der Grund- und Mittelschule Fürstätt den täglichen „Kraftakt“ an der „Brennpunktschule“. Rektor Kai Hunklinger nennt unter anderem: Pausen- und Toilettenaufsicht, Einführungsstunden, Organisation der Abholung erkrankter Kinder, ohne dabei die Aufsichtspflicht zu verletzen, Erbrochenes wegwischen, Korrekturen, Vorkopieren und Internetrecherche. Des Weiteren: „unauffällig und wertschätzend den Läusebefall in der eigenen Klasse überwachen und verwalten, Vernetzung mit der Jugendsozialarbeit, Aufkleben von Pflastern und danach sofortiges Eintragen der Pflasterentnahme und Anbringung am Schüler im Pflasterbuch mit Datum und Unterschrift, Fortbildungen, Jahrgangsstufenkoordinationstreffen einmal wöchentlich, Lernentwicklungsgespräche mit allen Schülern der Klassen im Beisein ihrer Eltern“. Hinzu kämen: „Vorbereitung der Einschulung, kollegiale Fallbesprechung, Austausch mit der Ganztagsbetreuung, besorgte Eltern beruhigen, Schulwegstreitigkeiten regeln, Eintreiben der vermissten Bücher der Schulbücherei, kompetenzorientierte Lernstandsnachweise erarbeiten und in Kriterienraster übertragen, Geldeinsammeln für den Wintersporttag, Gespräche mit der Hortbetreuung oder dem Ganztagspersonal führen – selbstverständlich erst, nachdem die schriftliche Schweigepflichtsentbindung von den Eltern eingeholt wurde – trotzdem zeitnah und situationsorientiert, Übersetzersuche für Gespräche mit nichtdeutschsprachigen Eltern, den neu in die Klasse gekommenen Schüler mit dem notwendigen klassenspezifischen Unterrichtsmaterial versorgen, zwei Tage später das Gleiche mit der noch neueren Schülerin, fehlende Telefonnummern ausfindig machen“. Dieses „Lehrerleben“ werde „aufgelockert durch 29 Unterrichtsstunden, so viele sind es dann im kommenden Schuljahr“, so Hunklinger für das Kollegium.
Piazolo: „Maßnahmen haben vorübergehenden Charakter“
Dabei hatte Kultusminister Piazolo bereits in seinem Schreiben vom 7. Januar an die bayerischen Lehrkräfte, Fachlehrkräfte und Förderlehrkräfte an den Grund-, Mittel- und Förderschulen notiert, er wisse, seine dienstrechtlichen Maßnahmen griffen womöglich in die Lebensplanungen der Beamten ein. So betonte er, alle Maßnahmen hätten „vorübergehenden Charakter“ und würden zurückgenommen, sobald es die „Bedarfssituation“ zulasse. Piazolo legte dar, Prognosen zeigten deutschland- und bayernweit einen steigenden Lehrerbedarf. Die Ursachen hierfür seien „vielfältig und teils schwer kalkulierbar“. Zu nennen wären beispielsweise gestiegene Geburtenzahlen, gestiegener Zuzug, zusätzliche Lehrerstellen durch Ganztagsbetreuung und Inklusion sowie eine gewandelte Personalstruktur, etwa durch Teilzeit. Bis weitere Lehramtsabsolventen als Lehrkräfte zur Verfügung stünden, vergingen Jahre, weshalb die Lehrkapazitäten durch die Aktiven solidarisch mit einer Kombination aus verpflichtenden und freiwilligen Maßnahmen erhöht werden müssten. Die Zusatzbelastungen würden aber so verträglich wie möglich gestaltet.
Zeitgleich zu den Protesten der Verbände am 7. Februar bekräftigte Piazolo nochmals seine „Maßnahmen zur Unterstützung und Entlastung der Lehrkräfte“. So würden in der Haushaltsperiode 2019/2020 insgesamt 3.000 zusätzliche Beförderungen für Grund- und Mittelschullehrkräfte ermöglicht. Zur Entlastung der Lehrkräfte und Schulleitungen würden die Mittel für Verwaltungsangestellte aufgestockt und die Leitungszeit für Schulleitungen schrittweise erhöht werden. An den Förderzentren startete ein Modellversuch zur Einführung der Erweiterten Schulleitung. Und die Mittel für die sogenannten „Drittkräfte“, die zum Beispiel Sprach- und Alphabetisierungskurse durchführen, würden erhöht werden. Piazolo wolle die Lehrkräfte überdies bei der täglichen pädagogischen Arbeit entlasten, die Zahl der Proben in Jahrgangsstufe 4 senken und die Zeugnisformate an den Grundschulen verschlanken. Nach den Worten des Kultusministers stellten die Maßnahmen sicher, „dass unsere Kinder – wie es in Bayern Standard ist – qualifizierte Lehrkräfte haben und kein Unterricht ausfällt.“ Denn: „Nur darum geht es: Unsere Kinder müssen den bestmöglichen Unterricht von bestmöglich ausgebildeten Lehrkräften erhalten.“
Widerstand gegen „Notmaßnahmen“
Dieser Sichtweise folgen weder die Betroffenen noch die Opposition im Bayerischen Landtag. Wie BLLV-Präsidentin Fleischmann kritisiert auch SPD-Bildungspolitikerin Simone Strohmayr, die Lehrer würden für eine über Jahre verfehlte Personalpolitik des Kultusministeriums „die Zeche zahlen“. Trotz personeller Unterversorgung werde weiterhin das falsche Ziel verfolgt, „das System Schule immer nur auf Kante zu nähen“. Die Bündnisgrünen fordern von der seit einem Jahr amtierenden schwarz-orangenen Koalition zusätzliche Investitionen. Laut Thomas Gehring könnten kurzfristig tausende Lehrkräfte anderer Schularten nachqualifiziert werden. Ausgebildete Grundschullehrer, die etwa als Erzieher arbeiteten, könnten in den Schuldienst zurückgeholt und Absolventen für das Lehramt an Realschulen und Gymnasien in Grundschulen eingesetzt werden. Kosten: rund vierzig Millionen Euro. Um erfolgreich zu sein, müsse zudem das Gehalt der Lehrer an Grund- und Mittelschulen auf das Niveau der Gymnasiallehrer angehoben werden, beispielsweise über einen Zeitraum von fünf Jahren.
Obendrein sollen Piazolos Maßnahmen über die change.org-Petition „Gegen die Neuregelung der Arbeitsbedingungen für Grund-/Mittelschullehrer*innen in Bayern!“ abgelehnt werden – im Interesse der betroffenen Lehrkräfte und Schüler, wie die Eingabe vorgibt: Der Kultusminister wird aufgefordert, „das von ihm geplante Konzept zurückzunehmen und durch einen gerechteren, langfristig tragbaren Lösungsweg zu ersetzen“. Die Petition hat nach vier Wochen Laufzeit knapp 47.000 Unterstützer gefunden. Mehr Information über die ministeriellen Maßnahmen ist online abrufbar unter www.km.bayern.de/unterrichtsversorgung.
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