„Warum ist die Bürokratie so extrem?“, fragt ein heimischer Bauunternehmer. „Jeder Beamte führt die Vorschriften bis zum Ende aus“, klagt eine Gastronomin, Geschäftsführerin eines Traditionsunternehmens. „Unsere Behörden agieren inzwischen völlig autark“, erklärt ein Landkreisbürgermeister. Und ein Hotelier resigniert: „I mog net mehr.“ – Ob Brandschutzvorschriften, Sicherheitsauflagen, EU-Datenschutzgrundverordnung oder neuerdings die Pauschalreiserichtlinie: Im „Fachgespräch“ mit dem Beauftragten für Bürokratieabbau der Bayerischen Staatsregierung, CSU-Landtagsabgeordneter Walter Nussel, schildern Betroffene Fälle aus allen Lebensbereichen, welche ihnen die Haare zu Berge stehen lassen. Der „oberste Entbürokratisierer“ lässt einige Fälle protokollieren und verspricht konkrete Abhilfe unter dem Motto „Wir haben verstanden – wir setzen um.“
Bundesweit plagen sich kommunale Organisatoren und Ehrenamtliche in Vereinen als Festveranstalter mit immer höheren Auflagen und wachsenden logistischen Herausforderungen. Selbst für Prozessionen und Umzüge werden Sicherheitsauflagen zum Hindernis, wenn zusätzliche freiwillige Helfer zum Absichern von Kreuzungen und Aufstellen von Absperrgittern nötig sind. Den steigenden Aufwand zu meistern, dazu fehlt manchen ländlichen Gemeinden das Fachpersonal, kleinen Vereinen die Kapazität. Sei es beispielsweise das eigenhändige Besorgen und Verlegen von Wasser- und Stromkabeln, das Koordinieren der Standbetreiber, Musiker, Security- und Sanitätsdienste, das Sicherstellen der Feuerwehrzufahrten und der Müllbeseitigung oder sei es das Abschätzen der Gefahrenlage und Einhalten verschärfter Sicherheitsvorkehrungen – manche Veranstalter lassen wegen Überforderung inzwischen sogar Feiern ausfallen. Babensham im Landkreis Rosenheim ist aktuell das Paradebeispiel im Freistaat Bayern: Alle kleinen Vereinsfeste sind heuer abgesagt, selbst die 125-jährige Jubiläumsfeier des Schützenvereins.
Der bürokratische Aufwand im Veranstaltungsbereich ist nach der Loveparade 2010 in Duisburg gestiegen. Terroranschläge wie jener 2016 in Berlin und die diesjährige Amokfahrt in Münster wirken als Verstärker. Öffentliche Veranstaltungen benötigen ohnehin eine Genehmigung der kommunalen oder regionalen Behörde. Formulare hierfür sind zwar oft online abrufbar. Für die Zulassung müssen aber vollständige, prüfbare Unterlagen vorgelegt werden, etwa detaillierte Pläne der Lokalität inklusive Maßangaben. Beim Ausschank alkoholischer Getränke wird zusätzlich eine Schankerlaubnis benötigt, beim Aufführen fremder Musik ist zur Lizenzierung die „Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte (GEMA)“ einzuschalten, bei Betriebsfeiern und -ausflügen sollte zwecks Versicherungsschutzes die zuständige Berufsgenossenschaft einbezogen werden, bei größeren Events überdies Polizei, Feuerwehr, Sanitätsdienst und gegebenfalls Krankenhäuser. Die Unterlagen müssen bei Veranstaltungen mit mehr als 200 Personen vier Wochen vorher eingereicht sein, bei Zeltanbauten an Gebäuden mindestens drei Monate vorher. Behördlicherseits erfolgt immer eine Einzelprüfung. Bei Verstößen drohen dann Strafen bis zu 500.000 Euro.
Bürokratie abbauen: „Praxis-Check“ und „Leitfaden“
Die Unzufriedenheit über immer neue bürokratische Belastungen reicht jedoch weiter. So hat zuletzt die Umsetzung der EU-Datenschutzgrundverordnung Vereine und Unternehmen viel Zeit und Geld gekostet – und bedeutet durch die erweiterte Informationspflicht und das neue Recht auf Datenportabilität auch künftig Aufwand. 100 Tage nach Inkrafttreten der EU-DSGVO hat der Digitalverband Bitkom in einer Umfrage zudem festgestellt, dass ungenaue Vorgaben, bei denen sich nicht einmal die Datenschutzaufsichtsbehörden auf eine einheitliche Auslegung einigen könnten, zu weiteren Problemen führen. Demgegenüber will Walter Nussel, Beauftragter für Bürokratieabbau der Bayerischen Staatsregierung, „die Angst nehmen“. Er verweist auf „den bayerischen Weg“, durch Ausnutzen der Spielräume die EU-DSGVO kein „Bürokratiemonster“ werden zu lassen. Hierzu empfiehlt er die Website des Bayerischen Staatsministeriums des Innern und für Integration https://www.dsgvo-verstehen-bayern.de.
Nussel berät und unterstützt die Staatsregierung seit dem 15. Februar 2017 beim Bürokratieabbau. Diese Aufgabe nimmt der 52-jährige Landtagsabgeordnete aus Erlangen-Höchstadt eigenem Bekunden zufolge unabhängig und ressortübergreifend wahr. Zunächst auf Sachverhalte in der Land- und Forstwirtschaft sowie im Bau- und Umweltrecht beschränkt, erweiterte Ministerpräsident Markus Söder (CSU) die Aufgaben Nussels Mitte März im Rahmen der Regierungsbildung und erhöhte zugleich die Personalstärke der Geschäftsstelle in der Staatskanzlei auf vier Mitarbeiter. Ende Juni auf Betreiben Nussels im Kabinett beschlossen, sollen neue Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften nun mittels „Praxis-Check“ in bayerischen Betrieben und Vereinen auf ihre Umsetzbarkeit und Sinnhaftigkeit hin geprüft werden, bevor sie in Kraft treten. Bezweckt ist, Verbesserungsvorschläge aus der Praxis aufzunehmen, sodass eine weitestgehend unbürokratische Handhabung möglich wird.
Eigene abgestimmte Leitfäden des Beauftragten sollen künftig die praxisgerechte und lebensnahe Umsetzung aktueller Regelungen aufzeigen und bürokratische Hürden abbauen helfen. In welchem Ausmaß kleine und mittelständische Unternehmen, die Bauwirtschaft und selbst Bürgermeister sich durch den Amtsschimmel beeinträchtigt sehen, das erfährt Nussel in sogenannten „Fachgesprächen“, zuletzt in Großkarolinenfeld, Landkreis Rosenheim, und in der kreisfreien Stadt Rosenheim. Dort referierte der Mittelfranke auf Einladung der CSU-Landtagsabgeordneten Otto Lederer und Klaus Stöttner über seine Arbeit und informierte sich über die Probleme der Selbstständigen, Unternehmer und Amtsinhabern.
„Mit Maß und Sicht“
„Augenmaß“ sei seine Maxime, sagt Nussel, der zudem den früheren Minsterpräsidenten Horst Seehofer mit den Worten zitiert: „Wir müssen ins Gelingen verliebt sein, nicht ins Erklären.“ Die von verstimmten Betroffenen geschilderten Fälle beantwortet er zuweilen damit, diese „Auswüchse“ zurückdrängen zu wollen. Ein Hotelier schildert etwa, dass die seit Anfang Juli geltende „Pauschalreiserichtlinie“ aus ihm einen Reiseveranstalter mache, wenn er eine Gästekarte mit ÖPNV-Anbindung anbiete. Dadurch habe er mehr Verwaltungsaufwand und werde zudem haftbar: „Das steht in keinem vernünftigen Verhältnis.“ Gastronomen schildern obendrein ihre Konflikte mit Behörden bei der Umsetzung von Bauvorschriften, Bürgermeister appellieren, die Fachstellen zu stärken. Verständis zeigt Nussel für die Kritik, dass immer mehr Handwerksmeister ihre Arbeit zusätzlich gutachterlich und damit kostentreibend absicherten.
Weiteres Thema: Vorschriften des Bodenschutzprogramms sollen im Freistaat keine extremen Kostentreiber mehr sein, zum Beispiel bei Straßensanierungen. Den Regularien entsprechend soll kontaminierter Bodenaushub entsorgt werden. Müssen jedoch durch restriktive Handhabung selbst bei kleinen Straßenreparaturen wenige Kubikmeter Erdreich klassifiziert und gegebenenfalls teuer als Sondermüll entsorgt werden, so sei dies übertrieben. Selbst für Babensham offeriert Nussel seine Unterstützung: In Großkarolinenfeld sprach sich der Vorstand des Schützenvereins, Kurt Huber, dafür aus, dass künftig für Zelte bis zu einer Größe von 300 Quadratmetern keine Abnahme durch das Landratsamt mehr notwendig sein soll. Derzeit ist dies nur für Zelte bis 75 Quadratmeter entbehrlich. Nussel sagt zu, dem Bauministerium eine Anhebung der Grenze und eine Staffelung der Anforderungen vorzuschlagen.
Mehr Information zur Arbeit des Beauftragten ist online abrufbar unter https://tinyurl.com/y7ljcu8a.
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